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Für die diesjährige Characters
of September-Challenge, zu der wie jedes Jahr die liebe Gabi Büttner aufruft, reise
ich zurück in die UdSSR der späten 1970er Jahre. Gedämpft wie durch den
Spätsommerdunst zieht hinter den Gardinen am Rückfenster das Tallinn jener
Zeiten an mir vorbei, während die SIL-Limousine über die Schlaglöcher der Rannamäe
Tee prescht. Plakate verkünden stolz, dass Tallinn, natürlich abgesehen von
Moskau, Austragungsort der Olympischen Spiele 1980 sein wird.
Neben mir sitzt die Legende
General Arvo Kortelainen, der in diesem Herbst gleich in zwei Büchern eine der
Hauptrollen übernimmt: In „Unter dem roten Stern“, dem 1. Teil der „Himmel,
Erde, Schnee“-Saga und in „Winterschwalben“, einer Ost-Ost
Spionage-Koproduktion mit meiner Kollegin Silvia Hildebrandt.
Zwischen mir und Arvo liegt die
breite Tellermütze mit dem üppigen Lorbeerlaub um den roten Stern. Ansonsten
ist Arvo mir gegenüber eher höflich-reserviert, dabei ist er nicht unbedingt
berühmt dafür, dass er lange fackelt. Seinem Gegenpart Nelu schlägt er gleich
einmal nach Wikingermanier mit der Faust nieder, sobald der sowjetischen Boden
betritt. Frauen gegenüber ist er charmanter. Vielleicht liegt es daran, dass
ich aus dem Westen angereist bin und in Zeiten des Kalten Krieges könnte der
wachsame Staat selbst bei einem General misstrauisch werden. Oder es ist
tatsächlich seine wortkarge nordische Art, warum er etwas zurückhaltend ist.
Aber ich bin Arvos Schöpferin, vielleicht genieße ich deshalb etwas mehr
Freiheiten.
Nachdem Arvo die Gardine ein
wenig zurückgeschoben und mir die Tallinner Bucht, das Viru Väljak und den Turm
der Olavikirche gezeigt hat, gebe ich ihm zu verstehen: „Noch kennen dich nicht
alle Leser. Willst du dich in ein paar Worten vorstellen?“
Etwas überrascht hebt Arvo die
Braue und gibt gedehnt den estnischen Allerweltslaut „Nooh“ von sich.
Was wohl bedeutet, also gut. „Ich bin hier in Tallinn geboren und im Stadtteil
Kadriorg aufgewachsen. Meine Eltern wohnten in einem schönen Haus“, antwortet
er, weist mit der Hand diagonal in die Richtung, wo sich hinter den
rußgeschwärzten, rot beflaggten Fassaden entlang der Narva Maantee die
Bucht befinden muss. „Vor dem Krieg war mein Vater Parlamentsabgeordneter,
meine Mutter liebte es zu singen. Doch dann …“ Ein Blick aus Arvos eisblauen
Augen verrät mir, dass er damit den Beginn der sowjetischen Besatzung meint. Er
ringt sich ein tapferes Lächeln ab, fährt fort: „Nach meinem Schulabschluss
wurde ich auf eine Kadettenschule in Kirgisien geschickt. Danach wurde ich nach
Armenien an die türkische Grenze versetzt, wurde endlich in Estland stationiert,
und dann ging es nach Kuba. Vergangenes Jahr kehrte ich nach drei Jahren aus
Kirgisien zurück. Dort war ich an der Kadettenschule, die ich einst absolviert
hatte, Ausbilder. Vor kurzem wurde ich zum General befördert und bin
stellvertretender Kommandeur der Militärpräfektur.“
„Das sind ziemlich nüchterne
Fakten über dich“, bemerke ich. „Erzähle etwas über deine Familie.“
„Ich bin verheiratet und habe
einen Sohn.“ Dabei entspannen sich seine Gesichtszüge, unweigerlich dreht er
mit der Daumenkuppe an seinem rotgoldenen Ehering, und ich merke am weicheren
Ton seiner Stimme, was ihm seine Frau und sein Sohn bedeuten mögen.
Als ich Arvo frage, wer seine
Bezugsperson als Kind war, wird er wieder einsilbiger. „Meine Mutter.“
Dass er nicht viel über Miina
sprechen möchte, verstehe ich zu gut. „Hast du trotzdem eine besonders schöne
Kindheitserinnerung?“
Sichtlich fällt es Arvo schwer,
über seine Kindheit zu sprechen. Da der Adjutant, der uns durch Tallinn
chauffiert, unsere Unterhaltung mithören kann, will ich nicht weiter nachbohren.
Ich weiß, dass Arvo der Untergang des alten Estlands, in dem er so behütet und
frei aufgewachsen ist, noch immer schmerzt und seine Familie
auseinandergerissen wurde.
„Das waren die Sommer in Pärnu,
an der Westküste“, antwortet er schließlich bereitwillig, schiebt nochmals die
Gardine ein paar Zentimeter beiseite und blinzelt gegen das sich in den
Fenstern der Häuserzeilen spiegelnde Sonnenlicht. „Aber auch das erste Mal, als
ich mit meinen Eltern das Sängerfest besuchte. Es findet alle vier Jahre statt.
Jedes Kind in Estland kennt die Lieder.“
„Hattest du als Kind auch ein
Lieblingsspielzeug?“, frage ich.
Jetzt scheint das Eis zu
brechen. „Meinst du, ich habe mit Spielzeugsoldaten gespielt?“, erwidert Arvo
augenzwinkernd. Kurz wendet er sich von mir ab, tippt seinen Adjutanten an der
Schulter und gibt ihm eine Anweisung. Der Mann streift mich mit einem
flüchtigen Blick in den Spiegel, fährt rechts heran. Arvo schüttelt leicht den
Kopf, nimmt seine Schirmmütze in die Hand, dreht sie. „Nein“, beantwortet er
seine eigene Frage. „In der Straße, in der ich damals wohnte, gab es viele
Kinder. Sommer wie Winter spielten wir die meiste Zeit draußen, es sei denn, es
war zu kalt und zu dunkel. Wir waren kreativ mit unseren Spielen, Stöcke
dienten uns als Schwerter, wenn wir Ritter, Wikinger oder Piraten waren. Ich
hatte einen Lederball, den wir kickten. Und im Winter liefen wir auf dem Eis.
Aber ein Lieblingsspielzeug hatte ich eigentlich nicht.“
Wir sind angekommen. Arvo steigt
zuerst aus, streicht seine dunklen Haare unter der Mütze glatt, umschreitet die
Limousine und hilft mir auf den Gehsteig. Vor mir ragt ein wuchtiges, graues
Gebäude in den von bauschigen Wolken durchzogenen Himmel. Staatliche
Planungsbehörde der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik lese ich in
goldfarbenen Lettern auf einer Marmortafel, auch auf Russisch. Eine rote Fahne
regt sich im lebhaften Wind, der von der Ostsee in die Stadt streicht. Die
Passanten, die an uns vorbeilaufen, weichen Arvo respektvoll aus, doch ich kann
eine heimliche Abneigung in ihren flüchtigen Blicken erkennen.
„Sie sehen in mir den
Okkupanten, den Verräter, der mit den Russen gemeinsame Sache macht“, flüstert
er mir verdrossen zu. „Dabei bin ich einer von ihnen.“ Verschwörerisch sieht er
mich an, dann strafft er seine Schultern und marschiert zackig in das Gebäude. „Hier
sind wir“, sagt er zu mir, lässt mir den Vortritt, als wir eine Halle aus
Marmor, roten Teppichen und einigen Grünpflanzen durchschreiten. „Gleich
treffen wir meinen besten Freund Martin. Er ist Sekretär bei der
Planungsbehörde Gosplan.“
Die Empfangssekretärin bemerkt
uns, hebt den Hörer ab. Über ihrem Kopf ticken Wanduhren und zeigen die
jeweilige Zeit in Moskau, Swerdlowsk, Omsk und Wladiwostok an. Jetzt werden mir
die Dimensionen des Sowjetreichs ehrfurchtsgebietend bewusst.
„Der Genosse Kruusen kommt in
einer Minute“, richtet uns die Frau aus.
Arvo nimmt seine Kappe wieder
ab, verschränkt die Arme auf dem Rücken. Eine klamme Ahnung läuft mir kalt den
Rücken herunter. Es könnte sein, dass hinter der samtenen Wandbespannung, in
den Blumentöpfen und hinter den Agitprop-Bildern Wanzen versteckt sind. Oder
dass die Sekretärin für das allgegenwärtige KGB arbeitet. Nur nicht
verdächtig wirken, mahne ich mich.
Jetzt öffnen sich die stählernen
Flügel der Aufzugstür und ein leicht untersetzter Mann mit dichtem honigblondem
Haar und schmalen Augen steigt aus. Am Revers seines Anzugs trägt er die
sowjetestnische Flagge als Anstecker: Rot, Hammer und Sichel und die
stilisierten Wellen der Ostsee. Verschmitzt grinsend läuft der Mann auf Arvo
zu, die beiden wechseln knapp ein paar Worte auf Estnisch. Dann reicht er mir
die Hand und stellt sich vor: „Tere, ich bin Martin Kruusen. Bitte
folgen Sie mir.“
Er steigt mit Arvo und mir in
den Aufzug. Als die Tür vor uns zugleitet und sich der Fahrkorb sirrend in
Bewegung setzt, wird mir mulmig. Ich weiß nur, dass ich froh sein werde, wenn
ich heil aus diesem Ding steige.
„Man nennt ihn auch Taanlane,
den Dänen“, bemerkt Arvo in Richtung Martin. Tatsächlich kling der Nachname
dänisch. Genauso wie die Deutschen beherrschten einst die Dänen Estland.
„Stadtbekannt und bekannt in den
höchsten Kreisen“, ergänzt Martin trocken-sarkastisch. Dabei blickt er zu den
Etagenknöpfen hoch, die nacheinander milchweiß aufleuchten.
In der obersten Etage angekommen
führt uns Martin einen Flur entlang, von dem mehrere Türen abzweigen. Ich grüble,
wohin er uns bringen will, als wir auf eine Stahltür zusteuern. Verbirgt sich
dahinter ein konspirativer Raum? Oder möchte mir Martin etwas zeigen? Er
schließt die Tür auf. Dahinter liegt ein Korridor in mattem Licht, mir steigt
der Geruch von Linoleum in die Nase. Schließlich erklimmt Martin erstaunlich
flink eine Leiter, schiebt eine Dachluke auf.
„Kommt hoch!“, fordert er uns
auf und ich erklimme das Dach.
„Warum hier oben?“, frage ich.
„Unser Staat ist sehr
neugierig“, erklärt Martin.
Von dort aus ist der Ausblick
auf die Stadt und den Hafen beeindruckend. In der Bucht kreuzen Schiffe und ich
bemerke das Hotel Olümpija, das sich mehrstöckig wie ein blauer Kasten
abhebt. Hier auf dem Flachdach spüre ich den frischen Wind unmittelbarer. Wie
ein klares Glockenspiel schlägt das Seil an den Flaggenmast.
„Wie lange seid ihr beide
befreundet?“, wende ich mich an Arvo. Er und Martin stehen nebeneinander und beiden
sehe ich an, dass ihre Freundschaft sehr lange zurückreichen muss.
Offensichtlich haben sie auch einiges miteinander durchgestanden.
„Wir haben uns nach Kriegsende
kennengelernt, als wir gemeinsam in einer Brigade den Schutt wegräumten“,
antwortet Arvo. „Mit Martin habe ich einen Freund fürs Leben gefunden. Nachdem
mein Vater nach Sibirien deportiert wurde und im Gulag starb, gab er mir
Halt. Alles, was wir einander anvertrauen, bleibt unter uns und wir können uns
aufeinander verlassen.“
„Du, ich und Meeli waren schon
ein besonderes Gespann.“ Beipflichtend nickt Martin. „So wie du mich früher in
der Schule hast abschreiben lassen.“
„Warst du gut in der Schule?“,
frage ich Arvo.
Etwas verlegen reibt er sich das
Kinn. „Ich war kein Streber, aber auch kein schlechter Schüler“, gesteht er.
„Dafür hat mir Martin besser Mathe erklärt, bis ich es konnte.“ Er blinzelt der
Sonne entgegen, die jetzt über dem Meer steht und seine Oberfläche wie
geschmolzenes Silber glitzern lässt. „In der Kadettenschule war ich tatsächlich
gut, aber das missfiel meinen Ausbildern und einigen meiner Kameraden. Für die
Russen galt ich als Balte als arrogant und besserwisserisch. Die Ausbilder
gönnten mir meine guten Noten nicht, was mich aber anspornte, mich noch mehr
anzustrengen und es ihnen zu beweisen. Einer hatte es besonders auf mich
abgesehen und schikanierte mich.“ Ein gedehnter Seufzer entfährt ihm, dann
schüttelt er ab, was ihn bis heute noch mitzunehmen scheint. „Reden wir von
etwas anderem.“
„Ja genau“, ruft Martin. „Von
deinem ersten Kuss. Wie war er?“
Wen Arvo wann zuerst geküsst
hat, interessiert mich brennend. Auch die Leser dürften gespannt sein, welches
Geständnis jetzt folgt und ob er schon immer ein Womanizer war.
„Blödmann!“, nennt er seinen
besten Freund, doch am breiten Grinsen merke ich, dass er das nicht so ernst
meint. Aber er wird seltsam verlegen, was ich nicht von ihm erwartet hätte.
„Er will es nicht verraten“,
raunt mir Martin zu, zieht verschwörerisch die Brauen hoch. „Dann helfe ich
gerne nach, denn ich habe mich diskret weggeschlichen, als du …“
Er bekommt einen
freundschaftlichen Faustschlag von Arvo gegen die Schulter. „Na schön“, sagt
Arvo ergeben. „Als ich am Strand von Pirita Meeli in den Arm genommen hatte und
sie mir signalisierte, dass sie darauf nur gewartet hatte. Ich war immerhin
schon siebzehn. Zuvor war der Krieg, da hatte man andere Sorgen und musste
zusehen, dass man überlebt und nicht verhungert. Außerdem hatte man sich mit
den Mädchen nicht so getraut und sie sich auch nicht.“ Als wollte er damit
seine Unschuld beteuern und seine späteren Geschichten herunterspielen.
Währenddessen grinst sich Martin einen ab, starrt auf den Teer, der die
Dachplatten zusammenhält „Meeli war meine beste Freundin, und eigentlich war das
ganze nur ein Ausprobieren.“ Ihre Lippen schmeckten nach Salz und Sonne, und
mir wurde ganz schwindlig. Ich hatte nicht gerafft, dass sie in mich verliebt
war. Sie schrieb mir immer ganz reizende Briefe an die Militärakademie. Erst
nachdem ich aus Armenien zurückkehrte, wurden wir ein Paar.“
Eine Wolke verhüllt die Sonne
und wirft ihren Schatten auf uns. In Arvos Gesicht erkenne ich jetzt deutlich
die markante Narbe. Für einen Augenblick wird er nachdenklich und sieht
gedankenverloren in die Ferne. Noch immer scheint er seiner Liebe
nachzutrauern.
„Genießen wir die Aussicht“,
sagt Martin schließlich und sorgt für eine erleichternde Unterbrechung.
„Das nächste Mal fahren wir
hinaus ins Hochmoor. Dort werde ich die nächsten Fragen beantworten“,
verspricht mir Arvo und setzt einige große Schritte zur Einsäumung des Daches.
Ich weiß schon jetzt, dass er
mir noch viel mehr erzählen will. Nach so vielen gemeinsamen Jahren ist Arvo
Teil eines eigenen Cold War Fiction- Universums, und wer weiß, ob nicht die
nächste Romanreihe von ihm handelt?
Ab Oktober könnt ihr Arvo und Martin kennenlernen |
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