Vor 30 Jahren: Der letzte "Schwanensee" - oder wie das rote Imperium unterging

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Montag, 19. August 1991: Im Staatsfernsehen läuft die Aufzeichnung des Ballettstücks „Schwanensee“. Während die Darstellerinnen in ihren zarten Kostümen über die Bühne des Bolschoj-Theaters schweben, rollen Panzer auf die sowjetische Hauptstadt Moskau zu. Und nicht nur dort reißen sie am frühen Morgen die Menschen in eine Realität, die den düstersten Vorstellungen entsprach, sondern und gerade auch die Hauptstädte der abtrünnigen Baltischen Republiken sollen unter den Panzerketten erzittern. Erneut laufen die Bürger*innen von Vilnius, Riga und Tallinn zu den Parlamenten ihrer Republiken, denn die Barrikaden des Winters standen noch immer.

Schließlich folgt der Auftritt der schwarzen Schwäne. Vizepräsident Gennadij Janajew erklärt auf einer Pressekonferenz vor den Kameras, Michail Gorbatschow sei erkrankt und er führe nun die Amtsgeschäfte. Dabei wird er vom „Komitee der Nationalen Rettung“ flankiert, dem unter anderem Verteidigungsminister Marschall Dmitrij Jasow, Innenminister Boris Pugo und KGB-Chef Wladimir Krjutschkow angehören. Eigentlich soll Gorbatschow am 20. August zurück aus den Ferien am Schwarzen Meer in Moskau sein, um den neuen Unionsvertrag mit den 12 verbliebenen Sowjetrepubliken zu unterzeichnen. Genau das wollen die Putschisten verhindern, eine neue Sowjetunion und ihren Machtverlust.

Übrigens war das selbsternannte „Komitee der nationalen Rettung“, das im Januar 1991 mit einem Militärputsch die litauische Regierung absetzen wollte, die Blaupause für den Staatsstreich gegen Gorbatschow. In meiner nächsten Romantrilogie „Eis und Bernstein“ bilden die Ereignisse um den Vilniusser Blutssonntag das Finale – mit der Beteiligung des anderen schwarzen Schwans, KGB-General Rimas Rutkus.

 

Folgt nun nach fünf relativ liberalen Jahren von Glasnost und Perestrojka eine neue Zeit der Falken im Kreml? Werden nun in den Baltischen Republiken die Regierungen abgesetzt, Politiker*innen verhaftet und unter Hausarrest gestellt, oder bilden sich Exilregierungen im westlichen Ausland und setzen sich dafür ein, dass ihre Länder nicht wie 1941 in Vergessenheit geraten?

 

Wie emotional und ungewiss die Tage des Augustputsches waren, beschreibt „Der Gesang der Freiheit“ (ab 01.10.2021 in voller Länge zu lesen). Enn kehrt als Parlamentsabgeordneter eilig aus dem Urlaub nach Tallinn zurück. Während Fregatten in der Tallinner Bucht kreuzen, stimmt das estnische Parlament für die Unabhängigkeit. Derweil bleibt Lagle in ihrem Heimatdorf Laanejärv und sitzt zwischen Jagdflinten und gepackten Koffern. Kämpfen oder fliehen? Als ich mich beim Verfassen dieser Szenen in ihn hineinversetzte, bekam ich meine Gänsehautmomente.


Der Riigikogu - das estnische Parlament



Im kühlen Luftzug bauschte sich die zarte Spitze der Gardine, das Glühen des Sonnenuntergangs tünchte die Wände. Enn wusste, wie abrupt Ende August die Nacht mit ihren Schatten und umherwandelnden Geistern hereinbrach. Dieser einfache Gedanke schob sich in sein Hirn – würden sie alle nur um die Selbstverständlichkeit von Tag und Nacht kreisen.

Froh darüber, dass er die zweite Garnitur eingepackt hatte und trotz der beiden Nächte im Parlament noch einigermaßen frisch und gepflegt war, spürte er die angenehme Kühle des Abends durch den Stoff seines Hemds. So frisch und gepflegt man eben sein konnte, wenn man sich am Handwaschbecken wusch und rasierte.

Der nächste Gedanke floss unmittelbar zu Lagle. Sie sollte erfahren, auf was er, die anderen Abgeordneten und Estland sich vorbereiteten. Aus der Schublade holte er sein Notizbuch, nahm den Telefonhörer ab. Enn lauschte nach dem Freizeichen, anscheinend hatten sie die Leitungen nicht gekappt. Wie immer mischte sich das vertraute Rauschen und Knacken in die Verbindung, bis Lagle sich meldete.

»Enn!« Der Klang ihrer Stimme nährte seine Sehnsucht, bei ihr zu sein.

»Geht es euch gut?«, vergewisserte er sich, doch er wusste, dass sie ähnlich empfand wie er und dieselbe Unruhe sie umtrieb. »Ich muss gleich in die Sitzung, darum hör mir zu. Heute Abend könnte das Parlament zum letzten Mal zusammenkommen, und die Zeit drängt. Wir werden die Unabhängigkeit erklären.«

Am anderen Ende entstand eine schwere Pause. Er wickelte die Telefonschnur um den Finger.

»Das bedeutet, wir sind ein freies Land?«, entgegnete Lagle.

»Ja«, antwortete Enn. »Wir haben erreicht, was wir wollten.« Er schob den Finger aus der schwarzen Plastikschnur. Drängte die Zeit, bevor einer der Serjoschas, die heute Nacht herumspukten, sämtliche Verbindungen kappte? »Auch wir beide. Hab keine Angst. Mina armastan sind – ich liebe dich, vergiss das nie.«

»Nie … Ich dich auch.«

Enns Hand glitt auf die Gabel, legte auf. In seinem Nacken fühlte er den kalten, feuchten Hauch des nahenden Herbstes, eines entfernten Winters. Er stand auf, strich die blaue Seidenkrawatte glatt. Er war bereit für den letzten Akt. Nichts, was auf dieser Welt existierte, ging jemals verloren. Kein Mensch, keine Erinnerung, kein Tag und keine Nacht. Keine Pflanze, kein Lebewesen und auch kein Lied.

»Jumalaga – Gott mit uns!«

© Ira Habermeyer 2021


Ich will kein Romanende spoilern, aber die Geschichtsbücher verraten, dass der Putsch in Moskau zusammenbricht. Innerhalb von fünf Jahren hat sich die sowjetische Gesellschaft verändert und die Zivilcourage ist so groß, dass die Junta aufgibt. Russlands Präsidenten Boris Jelzin gelingt es, den Widerstand um sich zu scharen und wird so zum neuen Tribun.

Gorbatschow kehrt in ein zerfallendes Land zurück: Litauen, Lettland und Estland haben sich längst aus der Union verabschiedet und werden international anerkannt. Die Autorität des sowjetischen Präsidenten schwindet, während Jelzin die Geschicke an sich reißt. Ohne Gorbatschow zu informieren, gründet er im Dezember 1991 bei Minsk mit den Präsidenten der Ukraine und Weißrusslands die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der sich die verbliebenen Sowjetrepubliken anschließen sollen. Es gibt kein rotes Reich mehr. Es ist zerfallen und Geschichte. Am 25. Dezember 1991 tritt Gorbatschow zurück. Das rote Banner mit Hammer und Sichel wird vom Dach des Kremls eingeholt, seitdem weht Russlands Flagge.

Für den letzten „Schwanensee“ ist der Vorhang gefallen.

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