Einst im Januar

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Ein aufgehetzter, wütender Mob protestiert vor dem Parlament, fordert den Rücktritt der Regierung und provoziert die Sicherheitskräfte. Bald fliegen Flaschen und Steine.

Erinnerungen an den Sturm auf das US-Kapitol in Washington am 06.01.2021 werden wach, und auch an den Versuch sogenannter "Querdenker", im August 2020 mit Hilfe von Rechtsradikalen gewaltsam in den Berliner Reichstag einzudringen. Die Szenerie, die ich beschreibe, trug sich so vor 30 Jahren in der litauischen Hauptstadt Vilnius zu, als von Propaganda aufgehetzte Anhänger der russisch dominierten Interfront und der konservativen, Moskau treuen Kommunistischen Plattform ausrasteten. Auslöser waren u.a. die von Premierministerin Kazimiera Prunskiene angekündigten Preiserhöhungen, der seit 11. März 1990 eingeschlagene Kurs in Richtung Unabhängigkeit und gezielte Propaganda aus dem sowjetischen Staatsfernsehen. Regelmäßig wurde behauptet, dass die russische Minderheit in den Baltischen Republiken diskriminiert würde. Fake News, die ihre toxische Wirkung entfalteten. Daraufhin fühlte sich das sogenannte Komitee der nationalen Rettung - besetzt mit Vertretern der gleichen Akteure wie vor dem Parlament - berufen, die frei gewählte litauische Regierung mit einem Staatsstreich abzusetzen.


Heute wird in Vilnius der Ereignisse des 13. Januar 1991 gedacht



Wer mir und der Entstehungsgeschichte der "Januar"-Trilogie folgt, weiß, dass genau diese Ereignisse Schritt für Schritt zum Showdown führen. Derzeit bin ich mitten in Staffel 2, aber da ich zwischen den drei Teilen umherspringe, konnte ich die aktuellen Ereignisse nicht anders kompensieren, als eine der Szenen vor dem Finale zu schreiben. Achtung, kann Spoiler enthalten.


Als Rasa vor dem Parlament ausstieg, vernahm sie laut und eindeutig das Geschrei der Interfront-Demonstranten. „Prunskienė, Landsbergis, tretet zurück!“, skandierten sie auf Russisch, die geballten Fäuste drohend erhoben, und schwenkten ihre roten Fahnen und Spruchbänder. Die gleiche Parole erscholl auch auf Litauisch. Eindeutig leisteten die Anhänger der Kommunistischen Plattform der Interfront Gesellschaft. Plötzlich war Rasa kotzübel. Wie vergiftet die Herzen und Seelen dieser Menschen von der Propaganda waren, machte sie fassungslos. Anscheinend hörten sie nichts anderes als die Lügen, die im sowjetischen Staatsfernsehen gegen die Balten verbreitet wurden. Anscheinend glaubte dieser Mob, er würde von der litauischen Regierung unterdrückt. Eilig bahnte sich Rasa ihren Weg an Anoraks und Pelzmänteln vorbei zum Eingang. Im Gerangel zwischen den Demonstranten und den Wachleuten spürte sie, wie ihr die Beklemmung die Luft abschnürte. Wie die Brandung einer aufgewühlten See drohten sie die ineinander verkeilten, zu Schlägen ausgeholten Hände und die trampelnden Füße fortzureißen, ihre Pelzkappe verrutschte. Abwehrend winkelte Rasa die Ellenbogen vor ihrem Körper an, drängte sich durch die erste Reihe zum Eingang. Der Wachmann, der sie mit einem kurzen, aber durchdringenden Blick musterte, erkannte sie als die Sicherheitschefin. Schnell schlüpfte sie durch die Tür, die er ihr öffnete und sofort wieder verrammelte.

In der Marmorhalle des Seimas schnappte Rasa nach Luft, riss sich die Pelzkappe vom Kopf, löste den Verschluss des Mantelkragens. Hinter den dicken, verspiegelten Glasscheiben verhallten die hasserfüllten Stimmen, doch der Klang von etwas Zerberstendem drang erschreckend hinein. Wahrscheinlich flogen jetzt Flaschen und Steine. Rasa wusste, wie inszeniert der Tumult war. Moskau suchte nach einer Rechtfertigung, einzumarschieren und hoffte, die litauische Seite würde sich dazu hinreißen lassen, diese Demonstration gewaltsam aufzulösen. Der Konvoi, den Rasa gesehen hatte, war nicht zufällig durch Vilnius gerollt. 

© Ira Habermeyer 2021


Am 13. Januar 1991 fuhren schließlich  Panzer vor dem Fernsehturm auf, dabei kamen 13 Menschen ums Leben. Der Putschversuch misslang, trotzdem stand darunter eine traurige Bilanz, die als Blutssonntag in die Geschichte einging. Doch die Mechanismen und die Beteiligten sind die gleichen wie 2021: Angst vor Veränderungen, Hass und Hetze, die Unfähigkeit, anderen Menschen etwas zu gönnen und deren Existenzrecht anzuerkennen -  und die schlichte Verweigerung, Tatsachen zu akzeptieren.

Dass gewalttätige Proteste oder Umsturzaktionen nicht gut gehen, beweist ebenfalls die Geschichte: Im August 1991 versuchte in Moskau ebenfalls ein Komitee der nationalen Rettung mit der Absetzung von Präsident Michail Gorbatschow, sich den neuen Zeiten entgegenzustellen. Das, was die Putschisten verhindern wollte, trat mit dem Zerfall der Sowjetunion schließlich ein.


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