Eis und Bernstein Staffel 2 #1: Nah am Weltfrieden

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Eigentlich wollte ich mich mit einem Facebook-Post begnügen, den Wikipedia-Link zum Gipfeltreffen zwischen Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Reykjavik 1986 teilen und dazu schreiben: „Ich liebe mein Genre, die Recherche und wie ich meine Protas mit historischen Ereignissen verweben kann.“

Ich bemerkte, dass die Kapazitäten auf Facebook nicht ganz ausreichen würden, da ein Satz mit einer kleinen Leseprobe doch ausführlicher würden. Das ist dem Kontext geschuldet: Was wurde aus den Ergebnissen dieses Gipfels und jenes im Washington des Jahres 1987, als sich Gorbatschow und Reagan auf die Vernichtung sämtlicher Nuklearwaffen einigten und 1988 in Moskau den INF-Vertrag (Washingtoner Abkommen) unterschrieben? Besagten INF-Vertrag kündigte den Donald Trump 2019 in seiner Funktion als Garant des Weltfriedens einseitig auf. Ernüchternder kann die Antwort darauf nicht ausfallen.

 

Was ist aus den INF-Verträgen und den Bemühungen der 1980er Jahre geworden?


Gehen wir zurück ins Jahr 1986. Darin befinde ich mich in Staffel 2 der „Eis und Bernstein“-Trilogie „Wind des Aufruhrs“. Aus diesem Anlass, und weil mir zu denken gibt, wer heute im Kreml, beziehungsweise im Weißen Haus sitzt, schreibe ich diesen Beitrag.

In meiner Erinnerung kehre ich an jenen Tag im Oktober 1986 zurück. Dass er grau war und das Laub golden, weiß ich noch heute. Ich begleitete meinen Vater zu dem Schreibwarenladen, in dem er gewöhnlich seinen Lottoschein abgab, hoffend, uns würde bald ein Millionengewinn hereinregnen. Auf dem Tresen lag die Tageszeitung aus, deren Schlagzeile ich las, Gipfeltreffen Reagan-Gorbatschow, so etwas in der Art. Während sich mein Vater mit dem Ladenbesitzer wohl darüber unterhielt, fiel der Satz: „Die werden so lange verhandeln, bis es zum Krieg kommt.“ Krieg, was für eine erschreckende, aber auch abstrakte Vorstellung für mich als junger Mensch, obwohl ich in Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses, der Ost-West-Konfrontation und des Russen aufwuchs.

Tatsächlich brachte der Gipfel keine Einigung, da Reagan sein Hobby SDI nicht aufgeben und Gorbatschow nur über Rüstungskontrolle verhandeln wollte. Vor seiner Abreise nach Moskau wandte Gorbatschow einen psychologischen Trick an: Er sagte der Presse, das Gipfeltreffen sei erfolgreich gewesen, und Reagan, in Verlegenheit gebracht, musste dies bestätigen. Damit war der Weg frei für weitere Verhandlungen.


The History Book on the Shelf ... Noch immer liebe ich es bei meinen Recherchen in meine geliebten alten Bücher aus Zeiten vor dem Internet zu schauen

 

Zurück zu „Wind des Aufruhrs“ und dem, was ich damit meinte, dass ich mein Genre liebe. Dass ich es liebe, meine Protas mit der Historie verschmelzen zu lassen. Ich habe Algirdas ins Moskau jener Tage geschickt und lasse ihn an einer Zufahrtsstraße zum Kreml stehen. 


Algirdas‘ Kopf schwirrte von den neuen Aufgaben und drei unterschiedlichen Sprachen, als er das mächtige, messingbeschlagene Portal des Ministeriums verließ. Von der Moskwa stieg Dunst dem klaren Herbsthimmel entgegen, verwischte die Ecken und Dächer der monumental emporragenden Regierungsgebäude wie ein Weichzeichner. Das helle Nachmittagslicht verfloss. Am Spasskijturm schlugen die hellen, klangvollen Glocken vier Uhr. Mit geballter Wucht prallten die Eindrücke auf Algirdas‘ Sinne ein, das Dröhnen der Autos und Busse, das Rascheln des fallenden Herbstlaubs und des Winds in den Flaggen schien lauter als in Vilnius. Regungslos standen die beiden Gardesoldaten Wache, als Leonid ihn am Stufenabsatz einholte und zu ihm aufschloss.

          „Wollen wir an den Alten Arbat gehen und uns in ein Teehaus setzen?“, schlug er vor. „Dann nehmen wir die Metro.“

          „Einverstanden“, erwiderte Algirdas und lief neben einer gespenstisch leeren, ungewohnt stillen Hauptstraße her.

          Absperrungen fassten den Gehsteig ein, grimmig dreinblickende Milizionäre säumten sie, beobachteten ihn. Eine Menschentraube hatte sich versammelt, Väter hoben ihre Kinder auf die Schultern, die kleine sowjetische Fähnchen schwenkten, und Frauen in hohen, spitzen Stiefeln, mit bauschigen Pelzkrägen auf ihren Mänteln und blond, rot, violett oder schwarz gefärbten Haaren schwatzten, ohne ihre kräftig geschminkten Lippen dabei zu bewegen. Selbst in der Art, wie sich die Moskauerinnen aufputzten, übertrafen sie die litauischen Frauen und deren prunklose Eleganz.

          In der Ferne heulten Sirenen, je näher sie kamen, umso hektischer und durchdringender wurden sie. Die Passanten hielten inne, schauten ehrfürchtig und erstaunt. Spontan begannen einige zu winken. Papierfähnchen flatterten. Wie im Fernsehen fuhren zwei Milizionäre auf Motorrädern vor einer großen, mit dem Sowjetbanner beflaggten SIL her, wiederum vier folgten der schwarzglänzenden Karosse.

          Neben dem Stamm eines Alleebaums blieb Algirdas stehen, sah der SIL hinterher. Er hob leicht die Hand zu einem Gruß. Der Konvoi wirbelte trockenes, gelb und rot verfärbtes Laub auf, tanzte um seine Füße. „Gorbatschow“, sagte er, obwohl er hinter den gerafften weißen Gardinen niemanden auf dem Rücksitz erkennen konnte. „Er kehrt vom Gipfeltreffen aus Reykjavik zurück. Ich bin gespannt, was er mit Reagan ausgehandelt hat.“

          „Hm“, meinte Leonid, schürzte die Lippen. „Wenn sie einen Krieg ausgehandelt haben, werden wir es erfahren.“

          Obwohl seit einem Jahr die Sowjets und die Amerikaner wieder miteinander über die nukleare Rüstung verhandelten, sah jeder besorgt auf die Gipfel der Mächtigsten. Die Amerikaner beharrten auf ihren Krieg der Sterne, wo ein Schutzschild im All Atomraketen abwehren sollte, Moskau bestand auf sein stationiertes Arsenal in der DDR. Wie ein drohender, unsichtbarer Schatten schwebte seit vierzig Jahren der Atomkrieg über der Welt – wie konnte man überhaupt den nächsten Tag planen wollen? Eigentlich konnte auch jederzeit das Universum in sich zusammenfallen. Algirdas sah den roten Rücklichtern hinterher, bis sie der Dunst verschluckte und die kleinen, glimmenden Punkte erloschen. Wie die Menschen, deren Grüppchen sich lebhaft schwatzend auflösten, hatte er gewagt, einfach zu leben und auf den nächsten Tag zu vertrauen. Leben bedeutete, nicht an die Angst zu denken. 

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