Eis und Bernstein Staffel 2 #2: Zwei Seiten der gleichen Münze

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Mit Staffel 2 "Wind des Aufruhrs" bin ich fast am Ende angelangt. Der Titel verrät, dass Rasa in die wechselvollen Wendejahre geraten wird. Während der späten 1980er Jahre erfährt die Sowjetunion, und Litauen noch als Teil des Imperiums, eine Menge an Veränderungen. Politische Häftlinge werden entlassen, die freie Meinung wird nicht mehr bestraft und "Gruppen zur Unterstützung der Perestrojka" formieren sich.


Für Rasas Vorgesetzten General Rimantas Rutkus sind diese Veränderungen sicher beängstigend. Er darf nicht mehr willkürlich schalten und walten wie er will. Er fördert noch immer seine Majorin Rasa, die bald auf einen Auslandseinsatz nach Kuba entsandt wird, denn die beiden sind zwei Seiten der gleichen Münze.



1.     In der Nähe von Vilnius, April 1987

 Klack – klack. Mechanisch rastete das Magazin der Tokarew ein, nachdem Rimas es nachgeladen hatte. Klack – klack, erwiderte die Pistole in Rasas Hand.

          „Bereit?“, fragte er, visierte die Zielscheibe an.

          „Bereit“, bestätigte sie, stand mit ihren Stiefeln wie verwurzelt auf dem Betonboden des Schießstands.

          Einen Schuss nach dem anderen feuerte Rimas auf die Zielscheibe ab, verglich aus dem Augenwinkel die Treffer, die Rasa erzielte. Sie war gut, erschreckend gut und präzise. Als er sich während ihrer Ausbildung mit ihr gemessen hatte, hatte sie die Regel missachtet, niemals den General vor den anderen Rekruten bloßzustellen. Dafür hatte er ihr in den Magen geschlagen, damit sie die Lektion behielt.

          „Prima“, lobte Rimas. „Du hast dich für die Mission auf Kuba verdient gemacht.“ Er sah zu, wie sie die Tokarew langsam sinken ließ. Den Regungen ihres Gesichts nach zu schließen rang sie gegen ihren Stolz. Davor musste sie schon fast platzen. „Mit deinem Einsatz für das Kommissariat gleichst du deine Verfehlung wieder aus. Deine IMs sind sehr aktiv.“ Er legte seine Pistole auf dem Tisch ab.

          „Du hast die Berichte gelesen?“, fragte Rasa, platzierte ihre Waffe daneben.

          „Habe ich“, erwiderte er, bedeutete ihr, zum Parcours weiterzugehen.

          Seit einigen Tagen war die bittere Kälte milderen Temperaturen gewichen. Auf dem gepflasterten Weg schmolz die dicke Schicht gefrorenen Schnees dahin, legte die nassen graubraunen Steine frei. Zu dieser Jahreszeit, fand Rimas, herrschten nur Langeweile und Tristesse. Der Winter wich, hinterließ grauen Matsch, und der Frühling zögerte, in den nackten, dürren Birken und den brachen, zerzausten Wiesen frisches Grün und zarte Farben zu treiben. Nur der Geruch des Regens, der vergangene Nacht die Erde durchtränkt hatte, und das muntere Zwitschern der Meisen verhieß den Frühling.

          „Die breite Bevölkerung stimmt zwar den Reformen zu, aber die Stimmung gegen Partei und Armee verschlechtert sich, wenn sie nicht gleich feindselig ist“, erklärte sie ihm.

          Brach jetzt mit den Reformen diese versteckte Feindseligkeit offen aus den Menschen heraus? Seitdem jedem erlaubt wurde, seine Meinung kundzutun, ging der Respekt verloren. Vielleicht ging bald alles verloren, und jetzt den Deckel auf diese unselige Büchse zu pressen, würde bedeuten, dass Aufstände aufflammten. So wie damals vor fünfzehn Jahren. Falls der Widerstand wieder ausbrechen sollte, brauchte es eine Gelegenheit, um zu zeigen, wer der Stärkere und wer der Schwächere war.

            Geladen vor hilflosem Zorn ballte Rimas die Faust. Am liebsten hätte er sie in den Nächstbesten hineingerammt, und das war der salutierende Offiziersanwärter, der ihm entgegenkam. Oder Rasa.

          „Würden die Reformen von heute auf morgen angehalten werden, gäbe es für die Menschen kein Zurück mehr. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt, kritischere Presseberichte zu lesen, sich im Namen der Perestrojka zu versammeln und zu demonstrieren, von uns überwacht, aber immerhin legal“, fuhr sie fort, während sie den Gruß des Offiziersanwärters erwiderte. „So treffen sich Dissidenten in ihren Zirkeln und Soldatenmütter stehen mit ihren Plakaten vor der Kathedrale.“ Ihre Stimme versagte. Anscheinend steckte ihr die Trauer um ihren Bruder noch immer in der Kehle. Sie schluckte, sagte dann: „Es ist die Frage, wie viel Freiheit dem Menschen guttut, und wie viel Autorität er verträgt. Denn tief in seinem Innersten ist der Mensch wild, gewalttätig, roh und habgierig. Lässt man ihm zu viel Freiheit, herrscht Anarchie. Unterdrückt man ihn zu stark, wird er sich irgendwann gegen seine Herrscher zusammenschließen und sie mit Gewalt vertreiben. Weil so sein Naturell ist.“

Interessant, welche Gedanken Rasa preisgab. Sie klang wie ihr Vater. Matsch schmatzte unter Rimas‘ Stiefeln, als er die von zerlöcherten Schneeresten überzogene Grünfläche durchquerte. „Nu, ja, die Menschen gewöhnen sich an gewisse Freizügigkeiten. Daher ist deine Frage berechtigt, ob der Mensch von Natur aus gewalttätig ist.“ Verdrossen stampfte er auf den Schnee ein, der unter seinen Sohlen wie Glas zersplitterte. „Wir haben in Kasachstan gesehen, was geschieht, wenn Nationalismus aufkommt. Insofern war dein Eingreifen bei dieser Versammlung an der Universität geistesgegenwärtig.“ Er wandte sich nach ihr um, schärfte ihr ein: „Sei auf der Hut, Rasa, und lass Grinfeldis‘ Frau in Ruhe.“

Hastig nickte sie, wich seinem Blick aus und sah auf die Hängebrücke aus Seil, die sich in ein zwischen zwei Bäume gespanntes Tau fortsetzte. Er folgte ihrem Blick zu der etwa drei Meter hohen Kletterwand. Auf ihrer rückwärtigen Seite befand sich ein Wassergraben, den es mit einem weiten Sprung zu überwinden galt.

„Am Montagabend landet die Genossin Dìaz in Vilnius. Du hast den Auftrag, sie am Flughafen abzuholen und zu ihrer Wohnung zu bringen“, sagte er. „Ihr kennt euch bereits aus Moskau. Sie wird dich unterrichten. Im Oktober werdet ihr gemeinsam von Riga aus mit dem Schiff nach Havanna reisen.“

„Ist die Genossin Dìaz vom kubanischen Geheimdienst?“, fragte Rasa.

„Nein“, antwortete er verächtlich. „Sie ist Offizierin der Armee. Die Direcciòn de Inteligencia veranstaltet spätestens seit dem Debakel in Angola viel Lärm um nichts. Konstruktive Zusammenarbeit mit dem DI sieht anders aus.“

Mit einem Satz erklomm Rimas die Hängebrücke, an deren heftigem Schaukeln er merkte, dass Rasa hinter ihm war. Er krallte sich im Seil fest, bewegte seine Hände um jeden Schritt auf den wackeligen Sprossen weiter. Als er sich nach dem Tau in den Bäumen reckte, spürte er plötzlich einen bohrenden Schmerz zwischen seinen Schulterblättern. Der erinnerte ihn daran, dass er in zwei Jahren 50 wurde. Obwohl er so gut täglich trainierte, an seiner Geschicklichkeit arbeitete und in Form blieb, ließ sich das Älterwerden nicht verleugnen. Flink wie ein Eichhörnchen erklomm Rasa das Tau, dicht bei ihm hangelte sie sich bäuchlings voran zur Kletterwand. Rimas spürte, wie die rauen Fasern in seinen geballten Fäusten die Haut aufscheuerten. Noch dazu machten es ihm die nasse Kälte und der schneidende Wind schwer, sich voran zu bewegen, wie er es als junger Offizier so mühelos getan hatte. Die Schwielen an den Handflächen würden schmerzhaft werden, wenn er sich das Seil herabgleiten ließ. Aber auch Rasa, war er sich sicher, würde es dabei nicht besser ergehen.

Unten angekommen hielt er kurz inne, nahm ihr angestrengtes Gesicht wahr. Dann erklomm er die Wand, sie hinter ihm her. Er ergriff die Kante, wollte ein Bein darüber schwingen, um herunterzuklettern, doch er blieb hängen und verlor das Gleichgewicht. Ohne Halt stürzte er in den Graben, wo das kalte, schlammige Wasser über ihm zusammenspritzte.

„Rimas? Generolas?“, rief Rasa besorgt, kletterte die Wand zur Hälfte herunter und sprang über den Graben hinweg zu ihm.

Glücklicherweise war das Wasser nicht besonders tief, aber die Demütigung, sich im Sediment aus verrottenden, modrigen Blättern aufzurichten, machte ihn fuchsteufelswild. Fluchend ergriff er ihre Hand, die sie ihm hilfsbereit entgegenstreckte. Sie sah ihn mitleidig an, doch Mitleid brauchte er jetzt am allerwenigsten. Wofür? Dass er alt und ungeschickt wurde? Dass er seinen Dienst nur noch am Schreibtisch und im Verhörraum ableistete, bis ihn der Staat in Rente schickte? Er hievte sich an ihr mit dem ganzen Gewicht seines Körpers hoch, so dass sie vergeblich versuchte, das Gleichgewicht zu halten und nach hinten kippte. Unfreiwillig landete er auf ihr. Seine nasse Tarnfleckjacke hinterließ dunkle Flecken auf ihrem Trainingsanzug.

Für eine sehr lange Sekunde sahen sie einander tief in die Augen. Irrational dehnte sich die Zeit, in der er sie so nah betrachtete.

 © Ira Habermeyer 2021

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