Eis und Bernstein Staffel 1 # 4: Ignalina

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Wer hat die Serie "Chernobyl" gesehen? Als Kulissen dienten der Stadtteil Fabijoniškes in Vilnius als Prypjat und das inzwischen stillgelegte Kernkraftwerk Ignalina. Dieses war von der selben Bauart wie Tschernobyl, ein RBMK-1500 Reaktor. Offiziell galten die RBMK-Reaktoren als "absolut sicher" und konnten/sollten nicht explodieren, da die Uranbrennstäbe mit Bor ummantelt und unten mit einer Graphitspitze versehen waren. Beide Stoffe gelten als sogenannte Moderatoren.
Dies einmal als Randnotiz, da Algirdas Montvila im Ministerium für den Bau des Reaktors zuständig ist und in der "Januar"-Reihe ganz schön viel Stoff einfließt. Womit diese Reihe bestimmt nicht langweilig wird - mich hält sie in Atem.

  


5.     Ignalina, Oktober 1981


„Hier sehen Sie den Kontrollraum des Reaktors des Typ RBMK.“ Ringsum umgeben von Schalttafeln, farblosen Leuchten und schwarzen Monitoren wandte sich Algirdas an die Besucher aus dem Moskauer Ministerium. Dabei betonte er jede russische Silbe, bemühte sich, dem O den Klang eines A zu verleihen. „Der Bau des ersten Blocks ist abgeschlossen, dieser hier, der zweite, wird planmäßig fertiggestellt, Genossen.“

          Auf den Gesichtern der Russen erkannte er einen zufriedenen Ausdruck. Seine Vorgesetzten aus dem Bauministerium der litauischen SSR zeigten dagegen keinerlei Regung. Vermutlich lag es daran, dass er sie seit sieben Jahren, seitdem er mit dem Bau des Atommeilers beauftragt war, stets auf dem neuesten Stand gehalten hatte. Neben einem streng dreinblickenden Oberst, der sichtlich widerwillig den weißen Schutzanzug über seiner Uniform trug, stand Leonid Tarassow. Er war der Architekt, der aus seinen statischen Berechnungen Block für Block gezeichnet hatte. Auf dem Tisch in der Mitte des fensterlosen Kontrollraums breitete Algirdas auf einem Kontrolltisch seine Pläne aus. Unternehmen Postfach A-15-13 stand in Litauisch und Russisch darauf.

          „Genosse …“, setzte der Oberst auf Russisch an, doch sein Akzent verriet, dass er ein Landsmann war.

          „Montvila.“

          „Genosse Montvila, wird der Termin zur Inbetriebnahme zuverlässig eingehalten?“, fragte der Oberst mit deutlichem Nachdruck.

          „Den 31. Dezember 1983 können wir definitiv einhalten. Immerhin ist Ignalina der größte Atomreaktor der Sowjetunion“, versicherte Algirdas. Er trat einen Schritt vor, wies mit der Hand zur Tür, vor der sich die Gesandtschaft aus Moskau drängte. Neben dem Oberst setzte er sich mit in Bewegung. „Genosse Oberst …?“

          „Jurkevičius“, antwortete er in der bellenden Sprache der Armee. „Ich wurde als militärischer Berater ins Bauministerium berufen.“

          Algirdas versuchte sich zu erinnern, doch ihm war nicht bekannt, dass eine Beraterstelle frei geworden war. Möglicherweise war sie still und heimlich entstanden. In diesem Land überraschte ihn wenig, die Armee betrieb seit jeher ihre Geheimniskrämerei, und das Ministerium genauso. Vor allem, wenn es um die Kernkraft ging, wie auch immer sie genutzt werden sollte. Er ahnte, dass ihm bestimmt heimlich auf die Finger geschaut wurde, damit er seine Pläne geheim hielt. Was er auch tat.

          Bevor er die Stahltür hinter sich zuzog, ließ Algirdas dem Oberst und dem Rest der Delegation den Vortritt. In den leeren Korridoren hallten Schritte auf Metallstegen. Der Lärm von Bohrern drang zu ihm, genauso wie der nach Hitze riechende Dunst geschmolzenen Metalls. Im Reaktor roch es wie in allen Gebäuden vor ihrer Benutzung, nach Beton und frischer Farbe. Arbeiter verschweißten dicke Nieten an Wasserrohren.

          „Das Kühlwasser wird aus dem benachbarten Drūkšiai-See bezogen“, erklärte Algirdas, führte mit stolzem Gang die Delegation an, nickte den Arbeitern zu. „Kommen Sie, Genossen, ich zeige Ihnen die Turbinen.“

          Metallstufen führten eine Etage tiefer. Vor den monströsen Turbinen bekamen der Oberst wie auch Leonid und der Abgesandte aus Moskau ehrfürchtige Augen. Techniker protokollierten, begutachteten die gelb gestrichenen Hüllen der Turbinen.

          „Alles in Ordnung, Genossen?“, fragte Algirdas die Techniker, spähte auf das Klemmbrett.

          „Jawohl, Genosse Montvila. Würde der Reaktor jetzt angeschaltet, liefen die Turbinen auf Hochleistung.“

          „So mag ich das. Danke.“ Algirdas wandte sich wieder an die Delegation. „Nun gehen wir zum Herz des Reaktors.“

          Durch eine weitere Tür leitete er sie zur Plattform, grüßte die beiden Kernphysiker, die einander anhand ihrer Pläne berieten. Algirdas trat ans Geländer, blickte hinab in die Halle. In deren Mitte war im Boden ein Achteck eingelassen, das wiederum aus Hunderten kleinerer Quadrate mit Metalldeckeln bestand. Ihn durchfuhr eine Welle freudiger Aufregung. So hatte er sich gefühlt, als er sich im Kulturhaus von Žalkalnis vor dem Klavier verbeugt und Beifall und Bewunderung gespürt hatte wie einen angenehmen, warmen Regen.

          „Genossen, sehen Sie.“ Beinahe feierlich bedeutete er dem Tross, näherzutreten. „In diesem Achteck, der Druckkammer, werden 211 graphitmoderierte, mit Bor ummantelte Brennstäbe eingelassen.“ Seine Hand zeichnete einen weiten Bogen, hinauf zur Decke, die Bewegung füllte die gesamte Halle. „Der Reaktor ist vom Typ RBMK-1500 und damit der leistungsfähigste. Dank des Graphits, das als Moderator zwischen den Uranbrennstäben gilt, ist dieses Kernkraftwerk absolut sicher.“ Sichtlich beeindruckte Gesichter blickten ihm entgegen. „Aber ich bin kein Kernphysiker. Dafür ist der Genosse hier zuständig.“ Er wies auf den kurzsichtigen Mann mit Halbglatze, der aus Moskau gekommen war und ein schmales, bescheidenes Lächeln aufsetzte. „Haben Sie noch Fragen zur Statik, Genossen?“

          „Danke, Genosse Montvila“, antwortete der Minister. „Sie haben uns klar erläutert, dass Bau und Fertigstellung nach unseren Erwartungen verlaufen.“ Lauter und mit gefälligem Grinsen wandte er sich an die Delegation. „Genossen, wir haben den Fortschritt unseres Vorhabens gesehen. Gehen wir.“

          „Gehen wir“, schloss sich ihm Jurkevičius an. „In Vilnius erwartet uns eine kleine Feier. Lassen Sie uns an unserer Gastfreundschaft teilhaben.“



Sobald die Bulldozer, Lastwagen, Wachtposten und das riesige Plakat mit dem Motto Lenin, die Macht der Partei und des Volkes sichern den Sieg des Kommunismus im Rückspiegel des Schigulijs verschwanden, wagte Algirdas einen leisen Stoßseufzer. Die flach im Himmel stehende Sonne blendete ihn, als er von der asphaltierten Straße links auf eine sandige Piste abbog. Aus dem Handschuhfach nahm er die Sonnenbrille, während lediglich sein linker Daumen das Lenkrad festhielt.

          „Lass uns eine Pause machen, bevor wir zum Gelage nach Vilnius fahren“, erklärte er dem verwunderten Leonid. „Der Tag ist schön.“

          „Was hast du vor?“, fragte er, hielt sich am Griff über dem Beifahrersitz fest. Auf der Piste schaukelte der Schigulij über Steine und durch Pfützen.

          „Schwimmen gehen“, grinste Algirdas, blickte auf Leonids frei liegendes Handgelenk. „Vielleicht solltest du deine schöne neue Uhr vorher ablegen.“

          „Nicht dein Ernst!“, gab Leonid mit gespielter Entrüstung von sich.

          Trotz des herrlichen Wetters wehte ein lebhafter Wind, trieb die tiefhängenden graubauchigen Wolken über die Grenze zu Weißrussland, schaukelte die Wipfel der Birken und Föhren hin und her. Das Wasser des Drūkšiai-Sees kräuselte sich, in der Sonne glitzerten die Wellen. Algirdas hielt den Schigulij am Ufer an, befreite sich von seinen Schuhen und krempelte die Hosenbeine auf. Wenn der Wind für einen Augenblick innehielt, sandte die Herbstsonne wohltuende Wärme aus.

          Neugierig reckten die beiden Rentner ihre Köpfe nach ihnen, als sie einige Schritte neben ihnen einen Kahn ins Wasser schoben. Den Angelruten, Keschern und dem Eimer nach zu schließen, hatten sie sich wohl zum Fischen verabredet. Algirdas warf einen wachsamen Blick zu seinem Schigulij. Unter dem Fahrersitz hatte er den Aktenkoffer mit den Plänen deponiert, die Schlösser mit Zahlenkombinationen gesichert, die nur er kannte. Allmählich wirst du paranoid, fasste er sich in Gedanken an die Stirn, woher sollen die Alten wissen, wer du bist, woher du kommst und warum du dich hier aufhältst? Woher sollen sie wissen, dass du einen Koffer mit geheimen Bauplänen im Auto liegen hast? Wahrscheinlich halten sie dich eher für einen Spitzel und haben Schiss.

          Etwas zögerlich folgte Leonid ihm zum Ufer, tat es ihm gleich, bis zu den Waden ins kühle Wasser zu steigen. Algirdas sah über das raschelnde, spröde Schilf.

          „Von hier aus wirkt das Kraftwerk fast wie ein surreales Schloss“, befand er, machte die Kühltürme, die rechteckigen Blöcke und die Kräne aus. „Wie ein weißes Schloss unserer modernen Zeit.“

          „Ich dachte, du überlässt uns Architekten die spielerischen Details“, sagte Leonid, watete zurück zur Uferböschung, wo er seine Jacke abgelegt hatte. Er holte eine Packung Kosmos-Zigaretten heraus, bot Algirdas eine an.

          Schützend legte er die Hände um die Flamme des Gasfeuerzeugs, zog an, inhalierte den Rauch. „Soweit spielerische Details an einem Reaktor möglich sind“, entgegnete er. „Ich meinte, von hier aus sieht es so unreal aus, wie es über dem See emporsteigt.“ Nachdenklich drehte er die Zigarette zwischen den Fingern. „Uns steht viel Arbeit bevor, Moskau setzt uns ein klares Datum.“

          „Das bedeutet, dass wir des Öfteren den Bau unseres hübschen, voll technisierten Schlosses überwachen dürfen.“

          „Und uns in dieser schönen Gegend aufhalten dürfen.“ Algirdas beobachtete das Stockentenpärchen, das am sich wiegenden Schilfgürtel vorbeipaddelte.

Der Erpel tauchte unter, kleine Luftbläschen stiegen an die Oberfläche. Winzige Wassertropfen perlten von seinem smaragdgrün schillernden Kopfgefieder, als er wieder erschien und sich kräftig schüttelte.

„Für heute sollten wir uns auf den Rückweg machen“, sagte Algirdas, bewegte sich über einzelne im Schlamm rollende Kieselsteinchen zum Ufer zurück. „Bis wir in Vilnius sind, ist es Abend und sie erwarten uns auf ihrer Feier.“

Unter dem willkommenen Vorwand, einzelne Steinchen und Grashalme von den nassen Füßen abzustreifen, setzte er sich auf die Rückbank des Schigulijs. Er machte den Griff und die metallenen Zahlenschlösser des Koffers aus, atmete erleichtert auf. Wenn sie ihm soweit vertrauten, dass er ihre Geheimnisse behielt, würde er sie auch hüten.



© Ira Ebner 2020


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