Social Media Hashtags #nordicstories #himmelerdeschneesaga #roman #baltikum #baltic #estland #estonia #coldwar #1970s #1980s #1990s #BuchEins #ussr #kalterkrieg #zeitgeschichte #iraebner #relaunch
Reisen mag derzeit nicht möglich sein und ob der Sommerurlaub stattfindet, steht noch in den Sternen. Wer weiß, was bis Juli/August ist? Vielen mag die Decke auf den Kopf fallen, dennoch halten wir durch.
Bücher und die Vorstellungskraft können zu Orten führen, die fremd und exotisch anmuten mögen. Oder einen Klang von Seidenstraße oder Dschingis Khans großem Mongolenreich haben. Wie etwa Kirgisien.
Einst besuchte Arvo die Militärakademie in Frunse (heute die kirgisische Hauptstadt Bischkek), 1974 wird er selbst als Ausbilder dorthin versetzt. Dort stößt er auf einen Skandal und seine Vergangenheit holt ihn ein. Ob seine junge Ehe mit Lagle die Bewährungsprobe besteht, wenn er seine Last mit sich schleppt?
Frunse, Kirgisische SSR, August 1974
Bücher und die Vorstellungskraft können zu Orten führen, die fremd und exotisch anmuten mögen. Oder einen Klang von Seidenstraße oder Dschingis Khans großem Mongolenreich haben. Wie etwa Kirgisien.
Einst besuchte Arvo die Militärakademie in Frunse (heute die kirgisische Hauptstadt Bischkek), 1974 wird er selbst als Ausbilder dorthin versetzt. Dort stößt er auf einen Skandal und seine Vergangenheit holt ihn ein. Ob seine junge Ehe mit Lagle die Bewährungsprobe besteht, wenn er seine Last mit sich schleppt?
Frunse, Kirgisische SSR, August 1974
In den Fluren der Akademie schlug Arvo
der Geruch der Vergangenheit entgegen. Lederfett, Borax und Papier. Gemeinsam
mit Oberst Anatolij Warrenikow schritt er durch den Korridor. Um diese Zeit war
es so still im Gebäude, dass ihre Schritte an den Wänden wiederhallten.
„Es
freut mich, dass Sie bei uns unterrichten, Genosse Kortelainen“, sagte
Warrenikow. „Da Sie selbst Absolvent der Akademie sind und über Erfahrungen im
In- und Ausland verfügen, sind Sie der richtige Nachfolger von Oberst Schenin.“
Er drückte die Türklinke, trat ein.
Arvos
Augen weiteten sich vor Erstaunen, als sich Galina hinter ihrem Schreibtisch
erhob.
„Ihre
Sekretärin, Galina Sokolowa“, sagte Warrenikow.
„Genosse
Oberst.“ Vor ihrem Schoß faltete sie die Hände, der zarte Baumwollstoff ihres
Rocks floss dabei, umspielte ihre wohlgeformten Beine.
„Wir
hatten bereits das Vergnügen“, sagte Arvo. „Die Genossin Sokolowa hat mich am
Flughafen abgeholt.“ Dabei warf er ihr einen wohlwollenden Blick zu. Er betrat
das Arbeitszimmer, das sich anschloss. „Ich nehme an, das ist mein
Dienstzimmer.“
„Jawohl.“
An
der Wand hingen die Karten der Sowjetunion, die sich um die halbe Weltkugel
ausdehnte, sowie Kirgisiens mit seinen Nachbarländern. Arvo befühlte die beiden
Telefonapparate und die Schreibunterlage aus Saffianleder.
„Stillgestanden!“,
hallte ein Befehl zu seinem Fenster hinauf. Das Aufschlagen von Stiefeln
erwiderte ihn. „Die Augen rechts!“
Arvo legte seine
Kappe auf dem Tisch ab, trat ans Fenster. Seine Finger hoben die Jalousien.
Unter ihm lag der Exerzierplatz. Ein Unteroffizier drillte eine Kompanie
Kadetten. So wie er einst einer von ihnen war. Damals im Hochsommer, in der
Hitze, und beinahe wäre er kollabiert. Er erinnerte sich an die Strafe für
seine Unkonzentriertheit, sein Taumeln. Die Schinderei auf dem Parcours,
Klimmzüge, bis er tatsächlich zusammengebrochen war.
„Schenin wurde
unehrenhaft entlassen“, sagte Warrenikow. „Darum sind Sie hier.“
Arvo kratzte
sich am Kinn, wandte sich um. „Darf ich fragen, was der Grund für seine
unehrenhafte Entlassung war?“
Warrenikow
blickte zu Boden, presste nachdenklich die Lippen zu einem schmalen Strich
zusammen. „Manche Menschen sind nicht ganz gesund“, druckste er. „Ein gesunder
Mann interessiert sich für Frauen. Bei ihm war es nicht so. Wenn Sie verstehen,
was ich meine.“
„Homosexuelle
Neigungen also“, schloss Arvo.
„Ja“, antwortete
Warrenikow, räusperte sich. „Aber das bleibt unter uns. Alles Weitere würde nur
Gerüchte anheizen und dem Ruf der Akademie schaden.“
„Natürlich.“ Angewidert
verzog Arvo den Mund.
„Ich lasse Sie
jetzt alleine, Genosse Kortelainen“, sagte Warrenikow. „Machen Sie sich ruhig
mit ihrem Arbeitsplatz vertraut. Wenn Sie etwas brauchen, wird sich Galina
Iwanowa darum kümmern.“
Arvo schwitzte in der Jacke, zog sie aus
und hängte sie über die Sessellehne. Er setzte sich. Ein schwerer Seufzer
entkam ihm, als er in der Lehne versank. Sein Rücken spannte sich an, unter der
Schulter fühlte er das unangenehme Ziehen eines eingeklemmten Nervs. Er fasste
an die Stelle, rieb über den Stoff.
Über den Bergen entfaltete die
Morgenröte ihre Farbenpracht, die Sonne hob sich goldgelb über den blauen
Gipfeln ab. Noch heizte sie Frunse nicht auf, als Lagle in den geliehenen Jeep
stieg.
Auf ihrem Schoß
hielt sie die Lomo-Kamera fest, als
er die Stadtgrenze zurückließ und über eine gerade Straße in die Steppe fuhr. Arvo
heizte über das Geröll der ausgefahrenen Pisten. Er staubte eine Ziegenherde
ein, die ein Hirtenjunge zusammentrieb.
Überwältigt von
der Weite der Steppe, den schneebedeckten Gipfeln und dieser fremden Welt bat
Lagle: „Halte doch mal an. Ich möchte ein paar Fotos schießen.“
Den Widerwillen,
die Fahrt zu unterbrechen, merkte sie ihm an. Seine Augen verbarg er hinter
dunklen Gläsern, doch ihr Sinn für ihn verriet, dass er etwas mit sich
herumtrug. Nichts, was mit ihr zu tun hatte, aber ihr ein unangenehmes Gefühl
bereitete.
Sie stieg aus,
hielt das Objektiv den Bergen entgegen, drückte den Auslöser. „Wie hoch sind
die Berge?“, fragte sie, wandte sich nach Arvo um, der im Jeep blieb.
„Über
siebentausend Meter“, antwortete er. „Da siehst du zum ersten Mal in deinem
Leben Berge, und sie gehören zu den höchsten. Jetzt steig wieder ein. Du wirst
noch etwas viel Beeindruckenderes sehen.“
Lagle kletterte
auf den Beifahrersitz zurück, schlug die Tür hinter sich zu.
„Unsere
Vorfahren stammen alle aus dieser Gegend hier.“ Arvo legte den Gang ein. Kleine
Steine schlugen gegen das Blech. „Sieh dir einmal deine Wangenknochen an. Die
sind ziemlich hoch. Wir sind nur blond und blauäugig, weil uns die Schweden,
Dänen, Deutschen und Russen besucht haben.“
„Sieh dir deine
Nase an“, scherzte Lagle. „Die hat etwas von Dschingis Khan.“
„Du bist ja
lustig!“ Er grinste schmallippig. „Aber es stimmt, unser Volk ist einst von
dieser Gegend hier an die Ostsee gezogen. Seine Sprache hat es sich bewahrt.
Die Kirgisen haben mindestens genauso viele Umlaute in ihrem Vokabular wie
wir.“
Hinter dem
nächsten Höhenzug breitete sich ein grünes Tal aus. Ein türkisfarbener Bachlauf
durchzog es, Fichten strebten dem Himmel entgegen. Als Arvo am Straßenrand
stehen blieb, atmete Lagle die erfrischende Luft ein, schloss für einen Moment
die Augen. „Das hätte ich am wenigsten erwartet“, sagte sie.
„Ich habe dir
nicht zu viel versprochen.“
An seiner Seite
wanderte sie durch dieses Tal. Sie blickte hinauf in die Kronen von
Walnussbäumen. In ihren Blättern sang der kühle Wind, schimmerte die Sonne. Sie
bückte sich, um eine herabgefallene Nuss aufzuheben, zog die grüne Hülle ab.
Aus dem Augenwinkel registrierte sie Arvo, der schweigend neben ihr herlief.
Ihr schien es, als bedrückte ihn nicht die Last des Rucksacks, den er
mitschleppte.
Wasser
plätscherte und rauschte an Felsbrocken vorbei. Er ging zum Ufer des Baches,
ließ den Rucksack von seiner Schulter gleiten und setzte sich. Blumen bogen
sich im Wind. Lagle ließ sich bei ihm nieder, zog die Schuhe aus und steckte
ihre Füße ins Wasser.
„Bedrückt dich
etwas an so einem schönen Tag?“ Sie beugte ihren Körper zurück, sah ihn an.
„Wenn es so ist, willst du mir nicht verraten, was?“
Arvo grinste,
als wollte er ihr beweisen, dass seine Laune bestens war. Von einer anderen
Seite hatte sie ihn bereits kennengelernt, damals im Wald. Der gleiche Blick,
als er mit der Kalaschnikow auf die Flaschen gezielt hatte. Würden diese Augen
sich wieder mit Tränen füllen, wenn etwas aus ihm herausbrach, von dem sie
keine Vorstellung hatte? Etwas, was einen Mann wie ihn zum Weinen brachte?
„Was soll schon
sein?“ Er erhob sich, krempelte die Hosenbeine bis zu den Knien auf und
balancierte über die glattgeschliffenen Steine in den Bach. „In ein paar Tagen
beginnen wir eine neue Arbeit, führen unser Leben weiter.“ Seine Hände füllten
sich mit Wasser, mit dem er das Gesicht benetzte. Tropfen verfingen sich in
seinen Haaren, liefen seine Wangen und sein Kinn hinab. Dann stemmte er die
Hände in die Seiten, sah sie auffordernd an. „Lass uns weitergehen. Bald kommt
ein Dorf.“
„Du kennst dich
hier aus?“ Sie streckte ihm die Arme entgegen, als er die Uferböschung erklomm.
Mit einem
kräftigen Ruck zog er sie hoch. „Ja, in der Gegend hatte ich damals ein Manöver.
Natürlich liegt das fast dreißig Jahre zurück. Das Dorf sollte es hoffentlich
noch geben.“
Ziegelhäuschen schmiegten
sich an einen grünen Hang, hölzerne Zäune umgaben sie. Hunde bellten, als Lagle
und Arvo im Dorf ankamen. Ein tiefes Blöken verwunderte sie mehr als das
Kläffen der Hunde. Auf der staubigen Straße lief ein Kamel herum.
„Hast du noch
nie ein Kamel gesehen?“ Arvo lachte auf, trat langsam auf das Tier zu und tätschelte
seine Flanke. Jemand hatte den zotteligen roten Filz zurechtgestutzt. „Komm,
ich fotografiere dich mit ihm. Das wird dir zu Hause niemand glauben.“
Ein heiseres
Kichern erscholl hinter Lagle. Sie erkannte den Schattenriss eines kleinen
gebückten Mannes. Als er vor ihr stand, erkannte sie ein asiatisches Gesicht,
dessen gegerbte Haut hunderte von Fältchen durchzogen. Er trug einen dünnen grauen
Kinnbart, auf seinem Kopf eine bestickte Filzkappe.
„Dschingis
Khan!“, flüsterte sie, während er zu Arvo etwas in einer unverständlichen
Sprache sagte.
Auch er hob die
Schultern. Der Alte sprach schlecht Russisch. Aber er bedeutete ihm, dass er
ein Foto der beiden mit dem Kamel machen würde. Als er Arvo die Lomo-Kamera zurückgab, zeigte er
geradeaus, führte die Hand an die Lippen. Essen.
Eine stämmige
Frau in langem magentafarbenen Gewand und mit einem prächtig bestickten
Kopftuch servierte Granatapfeltee, Lammeintopf, dazu fleischige, mit feinem
Flaum überzogene Pfirsiche und pralle, süße Pflaumen auf die Veranda, wo Lagle
und Arvo Platz genommen hatten. Lächelnd trat die Kirgisin wieder ab. Lagle
roch am Teeglas, setzte es an und ließ den Blick von der Veranda auf das Tal
und die Wälder schweifen. Die Befremdung der ersten Tage verschwand, als sie
die Farben und Gerüche aufnahm.
„Lass dein gutes
Essen nicht kalt werden“, erinnerte Arvo sie. Mit dem Löffel fischte er ein
Fleischstück heraus, fütterte sie.
„Ich habe doch
mein eigenes!“
„Das weiß ich.“
Das Lachen kehrte auf seine Lippen zurück, doch über dem Eisblau seiner Augen
lag eine dunkle Wolke. Sie legte sich auch auf seine Lippen. „Du hattest mich
gefragt, ob mich etwas bedrückt. Nicht wirklich. Es sind nur die Erinnerungen
an meine Zeit an der Akademie. In der Armee geht es hart zu und es gab nicht
nur sonnige Tage.“ Er schob ein weiteres Stück Lammfleisch auf den Löffel, für
sich. „Jetzt hat sich das Blatt gewendet, ich bin als Offizier zurückgekehrt
und die anderen haben sich mir zu fügen.“
„Verstehe“, sagte
Lagle. Sie biss auf dem Fleisch, ihre Zunge nahm fremde Gewürze auf. „Das ist
es also ...“
Wieder blickte
sie zu den Hügeln und Berghängen, die sich vor ihr erhoben. Die Wolken, die
feinen Nebel, hüllten die Wipfel der Tannen ein. Sie begann, die Feuchtigkeit
feinster Tröpfchen zu spüren.
© Ira Ebner 2017; 2020
Leseprobe aus dem Roman "Unter dem roten Stern - Teil 1 der Himmel, Erde, Schnee - Saga"
This comment has been removed by a blog administrator.
ReplyDelete