Himmel, Erde, Schnee RELOADED #10: Das Versprechen ferner Himmel

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Reisen mag derzeit nicht möglich sein und ob der Sommerurlaub stattfindet, steht noch in den Sternen. Wer weiß, was bis Juli/August ist? Vielen mag die Decke auf den Kopf fallen, dennoch halten wir durch.
Bücher und die Vorstellungskraft können zu Orten führen, die fremd und exotisch anmuten mögen. Oder einen Klang von Seidenstraße oder Dschingis Khans großem Mongolenreich haben. Wie etwa Kirgisien.

Einst besuchte Arvo die Militärakademie in Frunse (heute die kirgisische Hauptstadt Bischkek), 1974 wird er selbst als Ausbilder dorthin versetzt. Dort stößt er auf einen Skandal und seine Vergangenheit holt ihn ein. Ob seine junge Ehe mit Lagle die Bewährungsprobe besteht, wenn er seine Last mit sich schleppt?



Frunse, Kirgisische SSR, August 1974



In den Fluren der Akademie schlug Arvo der Geruch der Vergangenheit entgegen. Lederfett, Borax und Papier. Gemeinsam mit Oberst Anatolij Warrenikow schritt er durch den Korridor. Um diese Zeit war es so still im Gebäude, dass ihre Schritte an den Wänden wiederhallten.


          „Es freut mich, dass Sie bei uns unterrichten, Genosse Kortelainen“, sagte Warrenikow. „Da Sie selbst Absolvent der Akademie sind und über Erfahrungen im In- und Ausland verfügen, sind Sie der richtige Nachfolger von Oberst Schenin.“ Er drückte die Türklinke, trat ein.

          Arvos Augen weiteten sich vor Erstaunen, als sich Galina hinter ihrem Schreibtisch erhob.

          „Ihre Sekretärin, Galina Sokolowa“, sagte Warrenikow.

          „Genosse Oberst.“ Vor ihrem Schoß faltete sie die Hände, der zarte Baumwollstoff ihres Rocks floss dabei, umspielte ihre wohlgeformten Beine.

          „Wir hatten bereits das Vergnügen“, sagte Arvo. „Die Genossin Sokolowa hat mich am Flughafen abgeholt.“ Dabei warf er ihr einen wohlwollenden Blick zu. Er betrat das Arbeitszimmer, das sich anschloss. „Ich nehme an, das ist mein Dienstzimmer.“

          „Jawohl.“

          An der Wand hingen die Karten der Sowjetunion, die sich um die halbe Weltkugel ausdehnte, sowie Kirgisiens mit seinen Nachbarländern. Arvo befühlte die beiden Telefonapparate und die Schreibunterlage aus Saffianleder.

          „Stillgestanden!“, hallte ein Befehl zu seinem Fenster hinauf. Das Aufschlagen von Stiefeln erwiderte ihn. „Die Augen rechts!“

Arvo legte seine Kappe auf dem Tisch ab, trat ans Fenster. Seine Finger hoben die Jalousien. Unter ihm lag der Exerzierplatz. Ein Unteroffizier drillte eine Kompanie Kadetten. So wie er einst einer von ihnen war. Damals im Hochsommer, in der Hitze, und beinahe wäre er kollabiert. Er erinnerte sich an die Strafe für seine Unkonzentriertheit, sein Taumeln. Die Schinderei auf dem Parcours, Klimmzüge, bis er tatsächlich zusammengebrochen war.

„Schenin wurde unehrenhaft entlassen“, sagte Warrenikow. „Darum sind Sie hier.“

Arvo kratzte sich am Kinn, wandte sich um. „Darf ich fragen, was der Grund für seine unehrenhafte Entlassung war?“

Warrenikow blickte zu Boden, presste nachdenklich die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Manche Menschen sind nicht ganz gesund“, druckste er. „Ein gesunder Mann interessiert sich für Frauen. Bei ihm war es nicht so. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Homosexuelle Neigungen also“, schloss Arvo.

„Ja“, antwortete Warrenikow, räusperte sich. „Aber das bleibt unter uns. Alles Weitere würde nur Gerüchte anheizen und dem Ruf der Akademie schaden.“

„Natürlich.“ Angewidert verzog Arvo den Mund.

„Ich lasse Sie jetzt alleine, Genosse Kortelainen“, sagte Warrenikow. „Machen Sie sich ruhig mit ihrem Arbeitsplatz vertraut. Wenn Sie etwas brauchen, wird sich Galina Iwanowa darum kümmern.“



Arvo schwitzte in der Jacke, zog sie aus und hängte sie über die Sessellehne. Er setzte sich. Ein schwerer Seufzer entkam ihm, als er in der Lehne versank. Sein Rücken spannte sich an, unter der Schulter fühlte er das unangenehme Ziehen eines eingeklemmten Nervs. Er fasste an die Stelle, rieb über den Stoff.


 
Über den Bergen entfaltete die Morgenröte ihre Farbenpracht, die Sonne hob sich goldgelb über den blauen Gipfeln ab. Noch heizte sie Frunse nicht auf, als Lagle in den geliehenen Jeep stieg.

Auf ihrem Schoß hielt sie die Lomo-Kamera fest, als er die Stadtgrenze zurückließ und über eine gerade Straße in die Steppe fuhr. Arvo heizte über das Geröll der ausgefahrenen Pisten. Er staubte eine Ziegenherde ein, die ein Hirtenjunge zusammentrieb.

Überwältigt von der Weite der Steppe, den schneebedeckten Gipfeln und dieser fremden Welt bat Lagle: „Halte doch mal an. Ich möchte ein paar Fotos schießen.“

Den Widerwillen, die Fahrt zu unterbrechen, merkte sie ihm an. Seine Augen verbarg er hinter dunklen Gläsern, doch ihr Sinn für ihn verriet, dass er etwas mit sich herumtrug. Nichts, was mit ihr zu tun hatte, aber ihr ein unangenehmes Gefühl bereitete.

Sie stieg aus, hielt das Objektiv den Bergen entgegen, drückte den Auslöser. „Wie hoch sind die Berge?“, fragte sie, wandte sich nach Arvo um, der im Jeep blieb.

„Über siebentausend Meter“, antwortete er. „Da siehst du zum ersten Mal in deinem Leben Berge, und sie gehören zu den höchsten. Jetzt steig wieder ein. Du wirst noch etwas viel Beeindruckenderes sehen.“

Lagle kletterte auf den Beifahrersitz zurück, schlug die Tür hinter sich zu.

„Unsere Vorfahren stammen alle aus dieser Gegend hier.“ Arvo legte den Gang ein. Kleine Steine schlugen gegen das Blech. „Sieh dir einmal deine Wangenknochen an. Die sind ziemlich hoch. Wir sind nur blond und blauäugig, weil uns die Schweden, Dänen, Deutschen und Russen besucht haben.“

„Sieh dir deine Nase an“, scherzte Lagle. „Die hat etwas von Dschingis Khan.“

„Du bist ja lustig!“ Er grinste schmallippig. „Aber es stimmt, unser Volk ist einst von dieser Gegend hier an die Ostsee gezogen. Seine Sprache hat es sich bewahrt. Die Kirgisen haben mindestens genauso viele Umlaute in ihrem Vokabular wie wir.“

Hinter dem nächsten Höhenzug breitete sich ein grünes Tal aus. Ein türkisfarbener Bachlauf durchzog es, Fichten strebten dem Himmel entgegen. Als Arvo am Straßenrand stehen blieb, atmete Lagle die erfrischende Luft ein, schloss für einen Moment die Augen. „Das hätte ich am wenigsten erwartet“, sagte sie.

„Ich habe dir nicht zu viel versprochen.“

An seiner Seite wanderte sie durch dieses Tal. Sie blickte hinauf in die Kronen von Walnussbäumen. In ihren Blättern sang der kühle Wind, schimmerte die Sonne. Sie bückte sich, um eine herabgefallene Nuss aufzuheben, zog die grüne Hülle ab. Aus dem Augenwinkel registrierte sie Arvo, der schweigend neben ihr herlief. Ihr schien es, als bedrückte ihn nicht die Last des Rucksacks, den er mitschleppte.

Wasser plätscherte und rauschte an Felsbrocken vorbei. Er ging zum Ufer des Baches, ließ den Rucksack von seiner Schulter gleiten und setzte sich. Blumen bogen sich im Wind. Lagle ließ sich bei ihm nieder, zog die Schuhe aus und steckte ihre Füße ins Wasser.

„Bedrückt dich etwas an so einem schönen Tag?“ Sie beugte ihren Körper zurück, sah ihn an. „Wenn es so ist, willst du mir nicht verraten, was?“

Arvo grinste, als wollte er ihr beweisen, dass seine Laune bestens war. Von einer anderen Seite hatte sie ihn bereits kennengelernt, damals im Wald. Der gleiche Blick, als er mit der Kalaschnikow auf die Flaschen gezielt hatte. Würden diese Augen sich wieder mit Tränen füllen, wenn etwas aus ihm herausbrach, von dem sie keine Vorstellung hatte? Etwas, was einen Mann wie ihn zum Weinen brachte?

„Was soll schon sein?“ Er erhob sich, krempelte die Hosenbeine bis zu den Knien auf und balancierte über die glattgeschliffenen Steine in den Bach. „In ein paar Tagen beginnen wir eine neue Arbeit, führen unser Leben weiter.“ Seine Hände füllten sich mit Wasser, mit dem er das Gesicht benetzte. Tropfen verfingen sich in seinen Haaren, liefen seine Wangen und sein Kinn hinab. Dann stemmte er die Hände in die Seiten, sah sie auffordernd an. „Lass uns weitergehen. Bald kommt ein Dorf.“

„Du kennst dich hier aus?“ Sie streckte ihm die Arme entgegen, als er die Uferböschung erklomm.

Mit einem kräftigen Ruck zog er sie hoch. „Ja, in der Gegend hatte ich damals ein Manöver. Natürlich liegt das fast dreißig Jahre zurück. Das Dorf sollte es hoffentlich noch geben.“

Ziegelhäuschen schmiegten sich an einen grünen Hang, hölzerne Zäune umgaben sie. Hunde bellten, als Lagle und Arvo im Dorf ankamen. Ein tiefes Blöken verwunderte sie mehr als das Kläffen der Hunde. Auf der staubigen Straße lief ein Kamel herum.

„Hast du noch nie ein Kamel gesehen?“ Arvo lachte auf, trat langsam auf das Tier zu und tätschelte seine Flanke. Jemand hatte den zotteligen roten Filz zurechtgestutzt. „Komm, ich fotografiere dich mit ihm. Das wird dir zu Hause niemand glauben.“

Ein heiseres Kichern erscholl hinter Lagle. Sie erkannte den Schattenriss eines kleinen gebückten Mannes. Als er vor ihr stand, erkannte sie ein asiatisches Gesicht, dessen gegerbte Haut hunderte von Fältchen durchzogen. Er trug einen dünnen grauen Kinnbart, auf seinem Kopf eine bestickte Filzkappe.

„Dschingis Khan!“, flüsterte sie, während er zu Arvo etwas in einer unverständlichen Sprache sagte.

Auch er hob die Schultern. Der Alte sprach schlecht Russisch. Aber er bedeutete ihm, dass er ein Foto der beiden mit dem Kamel machen würde. Als er Arvo die Lomo-Kamera zurückgab, zeigte er geradeaus, führte die Hand an die Lippen. Essen.

Eine stämmige Frau in langem magentafarbenen Gewand und mit einem prächtig bestickten Kopftuch servierte Granatapfeltee, Lammeintopf, dazu fleischige, mit feinem Flaum überzogene Pfirsiche und pralle, süße Pflaumen auf die Veranda, wo Lagle und Arvo Platz genommen hatten. Lächelnd trat die Kirgisin wieder ab. Lagle roch am Teeglas, setzte es an und ließ den Blick von der Veranda auf das Tal und die Wälder schweifen. Die Befremdung der ersten Tage verschwand, als sie die Farben und Gerüche aufnahm.

„Lass dein gutes Essen nicht kalt werden“, erinnerte Arvo sie. Mit dem Löffel fischte er ein Fleischstück heraus, fütterte sie.

„Ich habe doch mein eigenes!“

„Das weiß ich.“ Das Lachen kehrte auf seine Lippen zurück, doch über dem Eisblau seiner Augen lag eine dunkle Wolke. Sie legte sich auch auf seine Lippen. „Du hattest mich gefragt, ob mich etwas bedrückt. Nicht wirklich. Es sind nur die Erinnerungen an meine Zeit an der Akademie. In der Armee geht es hart zu und es gab nicht nur sonnige Tage.“ Er schob ein weiteres Stück Lammfleisch auf den Löffel, für sich. „Jetzt hat sich das Blatt gewendet, ich bin als Offizier zurückgekehrt und die anderen haben sich mir zu fügen.“

„Verstehe“, sagte Lagle. Sie biss auf dem Fleisch, ihre Zunge nahm fremde Gewürze auf. „Das ist es also ...“

Wieder blickte sie zu den Hügeln und Berghängen, die sich vor ihr erhoben. Die Wolken, die feinen Nebel, hüllten die Wipfel der Tannen ein. Sie begann, die Feuchtigkeit feinster Tröpfchen zu spüren.

© Ira Ebner 2017; 2020

Leseprobe aus dem Roman "Unter dem roten Stern - Teil 1 der Himmel, Erde, Schnee - Saga"



 

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