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Im Osten besteht der Alltag aus viel Aberglauben. In Lettland etwa kann man sein Glück herausfordern, indem man mit geschlossenen Augen eine Brücke über ein fließendes Gewässer überquert und sich etwas wünscht. Für gutes Gelingen ihrer Vorhaben spuckt sich Lagle in "Himmel, Erde, Schnee" dreimal über die rechte Schulter. Vor der Kathedrale in Vilnius gibt es den "Wunder"-Stein. Wünsche werden wahr, stellt man sich in die Mitte, dreht sich nach allen Himmelsrichtungen und denkt dabei intensiv an den Herzenswunsch. Ich kann bestätigen, dass etwas Wahres dran ist. Nicht nur Gutes kann gerufen werden, der Teufel ist ebenfalls überall. Den konnte nicht einmal der Reale Sozialismus austreiben. Wie? Lest hier ...
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"Stebuklas" bedeutet Wunder |
Rasa klemmte ihre Tasche
unter den
Arm, stieg aus dem Trolleybus. Unsicher, ob sie die Fachschule für Staatliche
Verwaltung finden würde, sah sie sich um. Über der Häuserreihe mit ihren
grauen, rußgeschwärzten Fassaden stieg die Sonne zwischen tiefhängenden,
regenschweren Wolken auf, tauchte die Pamėnkalnio Gatvė in fließendes, mildes Licht.
Der vom Unwetter entfachte frische Wind trieb eine Keksverpackung über den
Gehsteig. Rasa schauderte ein wenig vor Kälte, sie hatte ihre Strumpfhose
weggelassen, weil sie mit ihren Sandalen hartnäckig am Sommer festhielt.
An ihr hasteten Frauen
und Männer vorbei, rissen sie beinahe mit in ihren hektischen Trott in die
Werkhallen der Fabriken. Mütter und Väter begleiteten ihre Kinder zum ersten
Schultag. Kleine, blankgescheuerte Gesichter, eingerahmt von sorgfältig
geflochtenen Zöpfen und akkuraten Scheiteln lugten todernst hinter den
Gladiolensträußen für die Lehrer hervor. Eine Gruppe Mädchen in ihren
Schuluniformen trödelte schwatzend und kichernd hinterher. Stadttauben kreuzten
mit vor und zurück wiegenden, schillernden Köpfen ihren Weg, schienen sich
nicht weiter beirren zu lassen.
Eine aufflatternde,
tschilpende Spatzenschar ließ sie schmunzeln. Immer wieder ließen sich die
munteren Vögel nieder, um an einem Stück Brotrinde zu picken und sich die
besten Bissen streitig zu machen. Oder sie gegen die grauen, räudigen Tauben zu
verteidigen. Kam das unachtsame Getrappel von Schuhen zu nahe, stoben sie
wieder auf, ließen sich in den niedrigeren Zweigen eines Ahorns nieder, spähten
mit geneigten Köpfchen herab und wagten einen erneuten Anflug auf die Brotrinde.
„Taktaktaktaktak!“,
schnalzte Rasa die Zunge gegen die Zähne, imitierte das Hüpfen der kleinen
Vögel und den vorbeituckernden Schigulij.
Wie
die Spatzen suchte sie die schützende Nähe des Baums, stützte die Tasche auf
ihren Oberschenkel und holte ihr Notizbuch heraus. Der Wind streifte das dünne
Papier der noch leeren Seiten. Sie klemmte sie fest, damit der Atem des
Frühherbsts nicht jedes einzelne Blatt umschlug, dann prüfte sie die Adresse.
Sie blickte auf, las die Hausnummern. Sie würde ein Stück vorlaufen müssen, um
zur Schule zu finden; doch das Rot einer flatternden Fahne wies ihr den Weg. Vor
einer Bäckerei hatte sich eine lange Warteschlange gebildet, die bis auf den
Gehsteig reichte. Im Vorbeigehen schnappte Rasa den verlockenden Duft frischen
Brotes auf.
„Ne yra! Es gibt kein Brot mehr!“,
verkündete eine unerbittliche Verkäuferin, die direkt vor Rasa aus dem Laden
auf den Gehsteig trat. Der Wind bauschte ihre weiße Haube, während sie ihr
einen grimmigen Blick zuwarf.
„Ist
das Ihr Ernst?“, rief der Mann, der als Erster in der Reihe vor der Bäckerei
stand. „Wir warten bereits seit einer Stunde.“
Gleichgültig
zuckte die Verkäuferin mit den Schultern. „Vielleicht bekommen wir um zwei Uhr
nochmal eine Lieferung“, sagte sie, wandte sich um. „Versuchen Sie’s da
wieder.“
Leise
murrend löste sich die Schlange auf, bewegte sich zu allen Seiten auseinander.
Ein Flügel des schweren, von unzähligen frostigen
Wintern, nassen Frühjahren, heißen Sommern und windigen Herbsten patinierten
Eichenportals stand offen. Fachschule für
Staatliche Verwaltung der LTSR prangte in goldenen Lettern und in strengen
Kyrilliza auf einem Schild aus glänzendem Granit. Rasa betrat die Halle, stieg
drei matt gewordene Marmorstufen hinauf. Instinktiv folgte sie dem
hereinfallenden Licht und hallenden Stimmen. Selbst wenn die jungen Frauen und
Männer in normaler Tonlage sprachen, wirkte das hohe, spitz zulaufende Gewölbe
wie ein Schallverstärker. Vor einer Liste scharten sich drei, vier Gleichaltrige,
halfen einander, ihre Namen zu finden und lernten dabei einander gleich kennen.
Wenn jemand hier pfeift, will ich nicht
wissen, wie groß der Teufel ist, der hier erscheint, erinnerte sich Rasa an
die abergläubische Redensart ihrer Mutter. Man durfte in Gebäuden niemals
pfeifen, auch kein fröhliches Lied, ansonsten kam der Teufel.
Als
sich das Grüppchen abwandte und mit hallenden Schritten das Lichtgitter auf dem
Boden durchquerten, warf Rasa einen Blick auf die Liste. Ihr Finger glitt über
die Namen. Als sie bei S angelangt
war, legte sich ein Schatten über sie.
„Ist
heute auch dein erster Tag hier?“ Eine Frau ihres Alters lächelte sie an und
warf ihr hinter den Gläsern einer großen Nickelbrille einen freundlichen Blick
zu. Sie trug ihre braunen Haare kurz, wie Federn fielen die glänzenden Stufen
übereinander. Eine derartige Frisur hatte Rasa einmal in der Arbeiterin gesehen, ausgerechnet der
Haarschnitt der englischen Prinzessin Diana diente als Vorbild.
„Hmhm“,
antwortete sie.
„Ich
suche auch meinen Namen. Ivanauskaitė, Ona“, stellte sich die Frau mit dem
Kurzhaarschnitt vor. „Wie heißt du?“
„Rasa
Tarvydaitė“, antwortete sie, tippte auf ihren Namen.
„Woher
kommst du?“, fragte Ona.
„Aus
Kaunas. Du?“
„Aus
Šiauliai.“
„Das
ist doch …“ Schon wieder haben sie ihre
Kreuze auf dem Hügel errichtet, erinnerte sich Rasa an ihren aufgebrachten
Vater. Dessen Stimme war aus dem Flur, wo er mit jemand Wichtigem telefoniert
hatte, durch den Türspalt in die Küche gedrungen. Dann schicken wir eben wieder die Bulldozer und die Miliz hin und
machen alles platt!
Ona
lächelte sanft. „Die Stadt der Kreuze“, ergänzte sie mit gesenkter Stimme.
„Keine Sorge, ich habe nie eins aufgestellt. Komm, wir müssen in die Halle. Der
Direktor hält eine Begrüßungsansprache.“
In
der Halle, die in einer fremden, längst verblichenen Zeit ohne Erinnerung
Zwecken ohne Erinnerung gedient hatte, waren etwa dreißig Stühle vor einem von
üppigen roten Gladiolen- und weißen Gerberagebinden flankierten Podium aufgebaut.
Dahinter umfloss roter Stoff die Porträts Breschnews und des litauischen
KP-Vorsitzenden Griškevičus. Rasa setzte sich neben Ona, legte den Kopf leicht in
den Nacken und betrachtete den Stuck an der Decke. Die Wappen in den Ranken aus
Eichenlaub waren eindeutig übermalt, zeigten Hammer und Sichel vor der
aufgehenden Sonne in frischen, grellen Farben.
Als
ein hochgewachsener, hagerer Mann in dunklem Anzug das Podium betrat,
verstummte das Gemurmel der Neuen. Er blickte in die Reihen, prüfte, ob seine
schwere Brille saß und setzte an zu reden.
„Liebe
Neu …“ Iiiiietsch! In einem ohrenbetäubenden Pfeifen gingen seine ersten
Worte unter. „… Ihr seid hier, um die Avantgarde des sozia …“ Iiiiietsch!
Rasa
biss die Zähne zusammen, spannte die Schultern an. Das schrille Quietschen tat
ihr körperlich weh. Sie sah zu Ona, die sich unwillkürlich die Ohren zuhielt
und ähnlich verkrampft wie sie dasaß. Dem erschrockenen Ausdruck ihrer Augen
nach zu schließen schien sie die gleiche Befürchtung zu befallen. Beherzt
sprang ein junger Mann auf, um die Kabel am Mikrofon zu richten.
© Ira Ebner 2020
© Ira Ebner 2020
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