Eis und Bernstein Staffel 1 #3: Ruf den Teufel

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Im Osten besteht der Alltag aus viel Aberglauben. In Lettland etwa kann man sein Glück herausfordern, indem man mit geschlossenen Augen eine Brücke über ein fließendes Gewässer überquert und sich etwas wünscht. Für gutes Gelingen ihrer Vorhaben spuckt sich Lagle in "Himmel, Erde, Schnee" dreimal über die rechte Schulter. Vor der Kathedrale in Vilnius gibt es den "Wunder"-Stein. Wünsche werden wahr, stellt man sich in die Mitte, dreht sich nach allen Himmelsrichtungen und denkt dabei intensiv an den Herzenswunsch. Ich kann bestätigen, dass etwas Wahres dran ist. Nicht nur Gutes kann gerufen werden, der Teufel ist ebenfalls überall. Den konnte nicht einmal der Reale Sozialismus austreiben. Wie? Lest hier ...

"Stebuklas" bedeutet Wunder



Rasa klemmte ihre Tasche unter den Arm, stieg aus dem Trolleybus. Unsicher, ob sie die Fachschule für Staatliche Verwaltung finden würde, sah sie sich um. Über der Häuserreihe mit ihren grauen, rußgeschwärzten Fassaden stieg die Sonne zwischen tiefhängenden, regenschweren Wolken auf, tauchte die Pamėnkalnio Gatvė in fließendes, mildes Licht. Der vom Unwetter entfachte frische Wind trieb eine Keksverpackung über den Gehsteig. Rasa schauderte ein wenig vor Kälte, sie hatte ihre Strumpfhose weggelassen, weil sie mit ihren Sandalen hartnäckig am Sommer festhielt.


An ihr hasteten Frauen und Männer vorbei, rissen sie beinahe mit in ihren hektischen Trott in die Werkhallen der Fabriken. Mütter und Väter begleiteten ihre Kinder zum ersten Schultag. Kleine, blankgescheuerte Gesichter, eingerahmt von sorgfältig geflochtenen Zöpfen und akkuraten Scheiteln lugten todernst hinter den Gladiolensträußen für die Lehrer hervor. Eine Gruppe Mädchen in ihren Schuluniformen trödelte schwatzend und kichernd hinterher. Stadttauben kreuzten mit vor und zurück wiegenden, schillernden Köpfen ihren Weg, schienen sich nicht weiter beirren zu lassen.


Eine aufflatternde, tschilpende Spatzenschar ließ sie schmunzeln. Immer wieder ließen sich die munteren Vögel nieder, um an einem Stück Brotrinde zu picken und sich die besten Bissen streitig zu machen. Oder sie gegen die grauen, räudigen Tauben zu verteidigen. Kam das unachtsame Getrappel von Schuhen zu nahe, stoben sie wieder auf, ließen sich in den niedrigeren Zweigen eines Ahorns nieder, spähten mit geneigten Köpfchen herab und wagten einen erneuten Anflug auf die Brotrinde.

          „Taktaktaktaktak!“, schnalzte Rasa die Zunge gegen die Zähne, imitierte das Hüpfen der kleinen Vögel und den vorbeituckernden Schigulij.
          Wie die Spatzen suchte sie die schützende Nähe des Baums, stützte die Tasche auf ihren Oberschenkel und holte ihr Notizbuch heraus. Der Wind streifte das dünne Papier der noch leeren Seiten. Sie klemmte sie fest, damit der Atem des Frühherbsts nicht jedes einzelne Blatt umschlug, dann prüfte sie die Adresse. Sie blickte auf, las die Hausnummern. Sie würde ein Stück vorlaufen müssen, um zur Schule zu finden; doch das Rot einer flatternden Fahne wies ihr den Weg. Vor einer Bäckerei hatte sich eine lange Warteschlange gebildet, die bis auf den Gehsteig reichte. Im Vorbeigehen schnappte Rasa den verlockenden Duft frischen Brotes auf.
          Ne yra! Es gibt kein Brot mehr!“, verkündete eine unerbittliche Verkäuferin, die direkt vor Rasa aus dem Laden auf den Gehsteig trat. Der Wind bauschte ihre weiße Haube, während sie ihr einen grimmigen Blick zuwarf.
          „Ist das Ihr Ernst?“, rief der Mann, der als Erster in der Reihe vor der Bäckerei stand. „Wir warten bereits seit einer Stunde.“
          Gleichgültig zuckte die Verkäuferin mit den Schultern. „Vielleicht bekommen wir um zwei Uhr nochmal eine Lieferung“, sagte sie, wandte sich um. „Versuchen Sie’s da wieder.“
          Leise murrend löste sich die Schlange auf, bewegte sich zu allen Seiten auseinander.

Ein Flügel des schweren, von unzähligen frostigen Wintern, nassen Frühjahren, heißen Sommern und windigen Herbsten patinierten Eichenportals stand offen. Fachschule für Staatliche Verwaltung der LTSR prangte in goldenen Lettern und in strengen Kyrilliza auf einem Schild aus glänzendem Granit. Rasa betrat die Halle, stieg drei matt gewordene Marmorstufen hinauf. Instinktiv folgte sie dem hereinfallenden Licht und hallenden Stimmen. Selbst wenn die jungen Frauen und Männer in normaler Tonlage sprachen, wirkte das hohe, spitz zulaufende Gewölbe wie ein Schallverstärker. Vor einer Liste scharten sich drei, vier Gleichaltrige, halfen einander, ihre Namen zu finden und lernten dabei einander gleich kennen.
          Wenn jemand hier pfeift, will ich nicht wissen, wie groß der Teufel ist, der hier erscheint, erinnerte sich Rasa an die abergläubische Redensart ihrer Mutter. Man durfte in Gebäuden niemals pfeifen, auch kein fröhliches Lied, ansonsten kam der Teufel.
          Als sich das Grüppchen abwandte und mit hallenden Schritten das Lichtgitter auf dem Boden durchquerten, warf Rasa einen Blick auf die Liste. Ihr Finger glitt über die Namen. Als sie bei S angelangt war, legte sich ein Schatten über sie.
          „Ist heute auch dein erster Tag hier?“ Eine Frau ihres Alters lächelte sie an und warf ihr hinter den Gläsern einer großen Nickelbrille einen freundlichen Blick zu. Sie trug ihre braunen Haare kurz, wie Federn fielen die glänzenden Stufen übereinander. Eine derartige Frisur hatte Rasa einmal in der Arbeiterin gesehen, ausgerechnet der Haarschnitt der englischen Prinzessin Diana diente als Vorbild.
          „Hmhm“, antwortete sie.
        „Ich suche auch meinen Namen. Ivanauskaitė, Ona“, stellte sich die Frau mit dem Kurzhaarschnitt vor. „Wie heißt du?“
          „Rasa Tarvydaitė“, antwortete sie, tippte auf ihren Namen.
          „Woher kommst du?“, fragte Ona.
          „Aus Kaunas. Du?“
          „Aus Šiauliai.“
         „Das ist doch …“ Schon wieder haben sie ihre Kreuze auf dem Hügel errichtet, erinnerte sich Rasa an ihren aufgebrachten Vater. Dessen Stimme war aus dem Flur, wo er mit jemand Wichtigem telefoniert hatte, durch den Türspalt in die Küche gedrungen. Dann schicken wir eben wieder die Bulldozer und die Miliz hin und machen alles platt!
       Ona lächelte sanft. „Die Stadt der Kreuze“, ergänzte sie mit gesenkter Stimme. „Keine Sorge, ich habe nie eins aufgestellt. Komm, wir müssen in die Halle. Der Direktor hält eine Begrüßungsansprache.“        
      In der Halle, die in einer fremden, längst verblichenen Zeit ohne Erinnerung Zwecken ohne Erinnerung gedient hatte, waren etwa dreißig Stühle vor einem von üppigen roten Gladiolen- und weißen Gerberagebinden flankierten Podium aufgebaut. Dahinter umfloss roter Stoff die Porträts Breschnews und des litauischen KP-Vorsitzenden Griškevičus. Rasa setzte sich neben Ona, legte den Kopf leicht in den Nacken und betrachtete den Stuck an der Decke. Die Wappen in den Ranken aus Eichenlaub waren eindeutig übermalt, zeigten Hammer und Sichel vor der aufgehenden Sonne in frischen, grellen Farben.
       Als ein hochgewachsener, hagerer Mann in dunklem Anzug das Podium betrat, verstummte das Gemurmel der Neuen. Er blickte in die Reihen, prüfte, ob seine schwere Brille saß und setzte an zu reden.
         „Liebe Neu …“ Iiiiietsch! In einem ohrenbetäubenden Pfeifen gingen seine ersten Worte unter. „… Ihr seid hier, um die Avantgarde des sozia …“ Iiiiietsch!
          Rasa biss die Zähne zusammen, spannte die Schultern an. Das schrille Quietschen tat ihr körperlich weh. Sie sah zu Ona, die sich unwillkürlich die Ohren zuhielt und ähnlich verkrampft wie sie dasaß. Dem erschrockenen Ausdruck ihrer Augen nach zu schließen schien sie die gleiche Befürchtung zu befallen. Beherzt sprang ein junger Mann auf, um die Kabel am Mikrofon zu richten.

© Ira Ebner 2020




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