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Denke ich anhand der aktuellen Corona-Krise zurück, wann zuletzt Angst und Verunsicherung unter uns geherrscht hatten, erinnere ich mich an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986. Auch damals war etwas noch nie Dagewesenes, Denkbares geschehen und niemand hatte einen Plan B. Vertuschung, Falschinformationen, oder Informationen, die erst nach und nach an die Öffentlichkeit gelangten, waren üblich. Nicht auszudenken, wie groß die Panik geworden wäre, hätte es damals die sozialen Medien gegeben.
Nachdem auch in Skandinavien und Mitteleuropa Radioaktivität gemessen wurde, musste die Sowjetunion die Nuklearkatastrophe zugeben. Was davor an Chemieunfällen, Störfällen und Umweltkatastrophen geschehen sein muss, lässt sich nur erahnen. Aber auch wie sehr Wissenschaftler wie Enn unter Druck standen, obwohl Nachweise und Messwerte den offiziellen Verlautbarungen widersprachen.
Die Leseprobe aus BuchEins führt zurück in den Herbst 1971. Bleibt gesund!
Tallinn, Oktober 1971
Mehr als fünfzig Kuhleiber dünsteten Wärme und ihren intensiven Geruch aus. Über ihnen klebten an den Deckenbalken verlassene Schwalbennester als Relikte des Sommers. Enn sah in die Runde seiner Studenten. Für die einen mochte der Stall ein Ort sein, in dem sie die Sommerferien mit Ernteeinsätzen oder den Besuchen bei Verwandten auf dem Land verbracht hatten, sofern sie nicht selbst aus den kleinen Dörfern stammten – für die anderen ein wenig fremd.
„Seit einigen Jahren dient die Sowchose Kosmonaut der Technischen Fachschule zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit.“ Enn stellte sich vor die Gruppe. „Neben der Versorgung Tallinns und Umgebung mit Milch und Fleisch entnehmen wir hier regelmäßig Proben, die wir an die Behörden weitergeben. Auf was, meinen Sie, werden Milch und auch das Futter untersucht?“ Er griff in den Futtertrog, nahm eine Handvoll Silogras heraus.
Ein Student meldete sich, eine junge Frau hob zaghaft den Arm. Enn rief sie auf.
„Auf Nährstoffe?“
Er nickte, drehte das Gras. Dabei kam hoch, was seine Messungen unverfälscht preisgaben – bevor er sie schönte.
Enn bemühte sein Gedächtnis nach seinem Namen. Täglich leitete er mehrere Kurse, von den Neuen bis hin zu den Abschlussklassen. Unzählige Namen, die er sich merken musste. Uve? Hieß er so?
Die Beengung in der Brust wurde Enn nicht los, als er im Labor seine Studenten beobachtete. Du hast deine Vorgaben, du hast deine Antworten, beschwichtigte er sein Gewissen. Nichts Organisches beengte ihn, vielmehr die Erwartung unangenehmer Fragen. Unruhe.
Er sah in die Reihen, suchte den Studenten vom Vormittag, glich die Namensliste ab. Uve, hatte er sich richtig erinnert. Enn nahm die Brille ab, hauchte die Gläser an, hielt sie gegen das fahle Nachmittagslicht, das durch das Fenster floss. Jeden einzelnen Regentropfen hörte er wie einen Aufprall. Er wandte sich wieder seinem Kurs zu. Der Blick einer Studentin suchte seinen. Er versuchte, den anderen nicht direkt in die Augen zu sehen. Möglicherweise begannen sie dann zu fragen.
„Genosse Treimann, helfen Sie mir bitte!“
Enn ging an den Tischen vorbei, zu der Studentin.
„Ich glaube, ich habe zu viel Reagenzflüssigkeit verwendet“, sagte sie. „Mit dem Niederschlag stimmt doch etwas nicht, oder?“
Die Reaktion im Glas kam ihm bekannt vor. Es war nicht ihr Fehler, genauso wenig wie es jemals seiner gewesen sein konnte. Doch die Wissenschaft lebt nicht vom Könnte sein, sie ist knallhart mit ihren Zahlen und Fakten. Sie lügt auch nicht – wir müssen lügen.
„Zeigen Sie her.“ Sollte seinetwegen die junge Frau an ihren Fähigkeiten zweifeln? „Der Niederschlag ist völlig normal. Aber so sollte es nicht sein.“
Seine Worte hatte Uve aufgeschnappt. Er drehte sich um. „Bei mir ist dasselbe passiert.“
Fragt nicht, lasst es! Enn spielte eine Miene, die mit dem Alltag konformging. Mit der Hand strich er über die Tischkante, als er sich nach vorne bewegte. Er stand vor dem Kurs, zwang diese Unruhe nieder, stieß die Beklommenheit erneut fort. „Ich sagte bereits, wir leben in einem hochentwickelten, industrialisierten Land“, wiederholte er, damit er ihnen einschärfte, wie sehr sich Zahlen verfälschen und Behörden austricksen ließen. „Der Erfolg unseres Landes liegt an seinen Quoten und Planvorgaben. Auch wir Wissenschaftler haben unsere Vorgaben – und Verantwortung für die Öffentlichkeit.“ Er blickte in wenig überraschte Gesichter, überlegte, ob er fortfahren sollte. Anscheinend war ihnen bewusst, was er meinte. „Wenn Sie weiter forschen wollen, halten Sie sich an Ihre Vorgaben.“
Mehr verriet er nicht, denn ein Wort zu viel konnte ihn in Schwierigkeiten bringen. Die Unruhe befiel ihn nicht wieder, sein Gewissen fühlte sich leichter an. Seine strenge Miene vertrieb das alltagskonforme Lächeln, gebot jedem Widerspruch Einhalt. Aber er sah, dass Uves Mundwinkel unwillig zuckten.
© Ira Ebner 2017; 2020
Nachdem auch in Skandinavien und Mitteleuropa Radioaktivität gemessen wurde, musste die Sowjetunion die Nuklearkatastrophe zugeben. Was davor an Chemieunfällen, Störfällen und Umweltkatastrophen geschehen sein muss, lässt sich nur erahnen. Aber auch wie sehr Wissenschaftler wie Enn unter Druck standen, obwohl Nachweise und Messwerte den offiziellen Verlautbarungen widersprachen.
Die Leseprobe aus BuchEins führt zurück in den Herbst 1971. Bleibt gesund!
Tallinn, Oktober 1971
Mehr als fünfzig Kuhleiber dünsteten Wärme und ihren intensiven Geruch aus. Über ihnen klebten an den Deckenbalken verlassene Schwalbennester als Relikte des Sommers. Enn sah in die Runde seiner Studenten. Für die einen mochte der Stall ein Ort sein, in dem sie die Sommerferien mit Ernteeinsätzen oder den Besuchen bei Verwandten auf dem Land verbracht hatten, sofern sie nicht selbst aus den kleinen Dörfern stammten – für die anderen ein wenig fremd.
„Seit einigen Jahren dient die Sowchose Kosmonaut der Technischen Fachschule zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit.“ Enn stellte sich vor die Gruppe. „Neben der Versorgung Tallinns und Umgebung mit Milch und Fleisch entnehmen wir hier regelmäßig Proben, die wir an die Behörden weitergeben. Auf was, meinen Sie, werden Milch und auch das Futter untersucht?“ Er griff in den Futtertrog, nahm eine Handvoll Silogras heraus.
Ein Student meldete sich, eine junge Frau hob zaghaft den Arm. Enn rief sie auf.
„Auf Nährstoffe?“
Er nickte, drehte das Gras. Dabei kam hoch, was seine Messungen unverfälscht preisgaben – bevor er sie schönte.
Der Student meldete sich noch immer,
anscheinend drängte es ihn zu sagen: „Nachweise von Schwermetallen?“
Enn bemühte sein Gedächtnis nach seinem Namen. Täglich leitete er mehrere Kurse, von den Neuen bis hin zu den Abschlussklassen. Unzählige Namen, die er sich merken musste. Uve? Hieß er so?
„Richtig“, antwortete Enn. „Da wir in
einem hochentwickelten, industrialisierten Land leben, lassen sich
Produktionsrückstände auch in Milch und Futter nicht vermeiden.“ Die Wahrheit
lag ihm auf der Zunge, die unterschwellige Sorge um seine Tochter. Ihre
Schulmilch, der Käse und das Fleisch, das es an Sonntagen gab. Er warf das Gras
in den Futtertrog zurück, tätschelte die Kuh, die es mit ihrer Zunge aufnahm. „Sie
sollten unterhalb der bedenklichen Werte liegen“, wandte er sich an den
Studenten und an den Rest der Gruppe. „Fangen wir an. Heute Nachmittag führen
wir die Analyse im Labor durch.“
Die Beengung in der Brust wurde Enn nicht los, als er im Labor seine Studenten beobachtete. Du hast deine Vorgaben, du hast deine Antworten, beschwichtigte er sein Gewissen. Nichts Organisches beengte ihn, vielmehr die Erwartung unangenehmer Fragen. Unruhe.
Er sah in die Reihen, suchte den Studenten vom Vormittag, glich die Namensliste ab. Uve, hatte er sich richtig erinnert. Enn nahm die Brille ab, hauchte die Gläser an, hielt sie gegen das fahle Nachmittagslicht, das durch das Fenster floss. Jeden einzelnen Regentropfen hörte er wie einen Aufprall. Er wandte sich wieder seinem Kurs zu. Der Blick einer Studentin suchte seinen. Er versuchte, den anderen nicht direkt in die Augen zu sehen. Möglicherweise begannen sie dann zu fragen.
„Genosse Treimann, helfen Sie mir bitte!“
Enn ging an den Tischen vorbei, zu der Studentin.
„Ich glaube, ich habe zu viel Reagenzflüssigkeit verwendet“, sagte sie. „Mit dem Niederschlag stimmt doch etwas nicht, oder?“
Die Reaktion im Glas kam ihm bekannt vor. Es war nicht ihr Fehler, genauso wenig wie es jemals seiner gewesen sein konnte. Doch die Wissenschaft lebt nicht vom Könnte sein, sie ist knallhart mit ihren Zahlen und Fakten. Sie lügt auch nicht – wir müssen lügen.
„Zeigen Sie her.“ Sollte seinetwegen die junge Frau an ihren Fähigkeiten zweifeln? „Der Niederschlag ist völlig normal. Aber so sollte es nicht sein.“
Seine Worte hatte Uve aufgeschnappt. Er drehte sich um. „Bei mir ist dasselbe passiert.“
Fragt nicht, lasst es! Enn spielte eine Miene, die mit dem Alltag konformging. Mit der Hand strich er über die Tischkante, als er sich nach vorne bewegte. Er stand vor dem Kurs, zwang diese Unruhe nieder, stieß die Beklommenheit erneut fort. „Ich sagte bereits, wir leben in einem hochentwickelten, industrialisierten Land“, wiederholte er, damit er ihnen einschärfte, wie sehr sich Zahlen verfälschen und Behörden austricksen ließen. „Der Erfolg unseres Landes liegt an seinen Quoten und Planvorgaben. Auch wir Wissenschaftler haben unsere Vorgaben – und Verantwortung für die Öffentlichkeit.“ Er blickte in wenig überraschte Gesichter, überlegte, ob er fortfahren sollte. Anscheinend war ihnen bewusst, was er meinte. „Wenn Sie weiter forschen wollen, halten Sie sich an Ihre Vorgaben.“
Mehr verriet er nicht, denn ein Wort zu viel konnte ihn in Schwierigkeiten bringen. Die Unruhe befiel ihn nicht wieder, sein Gewissen fühlte sich leichter an. Seine strenge Miene vertrieb das alltagskonforme Lächeln, gebot jedem Widerspruch Einhalt. Aber er sah, dass Uves Mundwinkel unwillig zuckten.
Frag
mich nicht, ich habe die Vorgaben nicht festgelegt. Widersprich mir nicht, ich
kann sie auch nicht ändern. Enn warf ihm einen Blick zu, der auch
diesen Widerwillen bändigen sollte.
© Ira Ebner 2017; 2020
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