Eis und Bernstein Staffel 1 #1: Hammer oder Sichel

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2019 neigt sich dem Ende zu und 2020 ist bereits in Sicht. Ich kann auf 2019 voller Zufriedenheit zurückblicken, privat sowie auch als Autorin. Mit dem 30. Jahrestag der Wende 1989 habe ich mit der "Himmel, Erde, Schnee"-Saga ins Schwarze getroffen. Die bisherigen Rezensionen und die Tendenz nach oben bei Lesern und Abonnenten spricht für sich.

Was ansonsten bisher geschah: Beide Teile, "Unter dem roten Stern" und "Der Gesang der Freiheit" befinden sich bei meinem Verlag in guten Händen. "Schwalben" erhält ein Makeover, es wird ein paar neue Szenen geben, die für Überraschungen sorgen werden. Nachdem ich zu Beginn des Jahres eine lästige Schreibblockade hatte, der Horror unter uns Autoren, kann ich seit Spätsommer nun endlich die Fäden bei "Die Gesichter des Januars" wieder aufnehmen.

Wie es 2020 weitergeht: Mit der Veröffentlichung der "Himmel, Erde, Schnee"-Dilogie und von "Schwalben".
Mein Ziel für das neue Jahr ist, Staffel 1 der "Eis und Bernstein"-Trilogie zu beenden, und die Richtung stimmt.

Zur Einstimmung einer weiteren Nordic Story vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs könnt Ihr Euch mit der ersten Leseprobe auf "Eis und Bernstein" und seine Protagonisten/Antagonisten Valdas und Rimas einstimmen.
Ich wünsche Euch Frohe Weihnachten und ein gesundes Neues Jahr!

Requisiten aus der Litauischen SSR
Mit Sicherheit auch Teil des Alltags der Grinfeldis', Tarvydas' und der Montvilas



Vilnius, Litauische SSR, September 1981

Gerade noch rechtzeitig bemerkte er die Pfütze im kraterähnlichen Schlagloch, bevor er mit seinen Budapester hineintrat. Er wich dem kleinen Wasserloch mit einem großen Schritt aus, warf die Fahrertür seines schwarzen Wolgas zu und blickte an der grauen Fassade mit der Leuchtbuchstabenschrift Elektronika hinauf. Der heftige Regen der vergangenen Nacht hatte den Sommer endgültig vertrieben, ein kalt auflebender Wind scheuchte die tiefhängenden graubauchigen Wolken durch den tiefblauen Himmel, brachte seine akkurat frisierte Haartolle durcheinander und riss an den roten Flaggen, die jeweils im Dreierspalier an beiden Seiten über dem Elektronika-Schriftzug angebracht waren. Vielleicht mochte er den Launen des Wetters genauso ausgeliefert sein wie die drei jungen Menschen, die ihm auf dem Gehsteig entgegenkamen, doch er konnte ihre Leben zusammenkrachen lassen wie eine morsche Hütte im Sturm. Wenn er so wollte. So war es recht, ihre heiteren Gespräche verstummten in der Sekunde, als sie ihn wahrnahmen, sie senkten ihre Blicke und wichen zur Seite. Im Spiegelbild der staubigen Fensterfont richtete er seine goldblonden Haare, betrachtete sich selbst und stellte fest, dass ihm der Anzug nichts von der einschüchternden Autorität seiner Uniform nahm. Ganz im Gegenteil. Er war Rimantas Rutkus, General des KGB, die Garantie, dass das Zentralkomitee und der Ministerrat gut schlafen konnten und Litauen ruhig und geordnet vorfanden.

            Unter dem Jackett tastete er nach seiner Makarow, betrat die Eingangshalle. Bis auf die Empfangsdame war die Halle leer, er konnte den festen Klang seiner Schritte hören. Über dem hellblonden Schopf der wie erstarrt wirkenden Frau tickten die Uhren. Vilnius, Moskau, Swerdlowsk und Wladiwostok. Der Geruch von verschmortem Plastik und geschmolzenem Metall waberte ihm aus der Fertigungshalle entgegen, kitzelte in seiner Nase. Rimantas hob den Kopf zur Brüstung. Eine rote Banderole regte sich kaum merklich, dahinter stand der Leiter des Kombinats, Valdas Grinfeldis. Die Arme unter der Brust verschränkt, die Lippen angespannt sah er ihm in die Augen, schien nicht einmal zu blinzeln.

            Labas rytas, Genosse Rutkus“, grüßte Valdas ihn von seiner Balustrade, stieg mit federndem Gang die Stufen hinab.

            Prüfend strich Rimantas über den Hinterkopf, damit kein Haar abstand, kam Valdas entgegen. Er war gleich groß wie er, seinetwegen musste er nicht in den Schuhen auf Zehenspitzen stehen und das Kinn anheben, um zu ihm aufzusehen. Die meisten seiner Landsmänner waren hochgewachsen wie die Krieger und Großfürsten aus der Geschichte, doch Valdas konnte andere Wurzeln vorweisen. Im Gegensatz zu ihm. Und Valdas kompensierte seine mittelgroße Statur mit dem Aussehen eines Schauspielers aus einem Schwarzweißfilm, seine dunklen Haare glänzten im Schein der milchigen Kugellampen, die Augenbrauen hatten die Form schwarzer Schwingen, über seine Wangen zog sich die Spur von Sommersprossen, Sprenkel wie auf einem Wachtelei, die während der sonnigen Tage an der Ostsee einen intensiveren Ton angenommen hatten. Er blickte ihn hintersinnig an, die Augen in jenem warmen Tiefbraun der Kaukasier, der bernsteinfarbene Ring um die Pupille schimmerte einen Funken goldener, als sie die Form von Halbmonden annahmen. Kein Wunder, dass sein fremdländisches Aussehen die Frauen anzog und sich bereits im Komsomol die hübschesten Mädchen an diesen Streber drangehangen hatten. Wieder mal im Gegensatz zu ihm, und er hätte sich bestimmt keine Gelegenheit entgehen lassen.

            „Nu, Genosse Grinfeldis“, entgegnete Rimantas, erwiderte dessen Grinsen. „Was machen die Zahlen?“

„Ich bin zufrieden und weiß, dass Elektronika das Plansoll erfüllen wird“, antwortete Valdas beiläufig, strebte den mit hellgrüner Ölfarbe getünchten Korridor entlang auf die Tür zu seinem Arbeitszimmer zu. „Immerhin ist die Armee mein größter Auftraggeber, benötigt die meisten Rechner. Und so wird es auch bleiben.“ Er öffnete die Tür, bedeutete Rimantas, ins Vorzimmer zu treten.

Flüchtig blickte Egidija, Valdas‘ Sekretärin, auf. Ihr Blick aus mit blauem Kajal umrahmten Augen war weniger ängstlich, doch sie verriet ihr Unbehagen mit schnelleren, flacheren Atemzügen. An ihren Ohrläppchen zitterten die Scheiben aus durchsichtigem rotem Plastik, ehe sie sich einer in dünnem Karton gebundenen Mappe widmete. Rimantas folgte dem Teppichläufer, der sich über der Türschwelle in Valdas‘ Arbeitszimmer fortsetzte. Auf dem Beistelltisch hatte Egidija eine Platte mit belegten Brotscheiben und eine silberfarbene Kaffeekanne angerichtet. Das blau-goldene Dekor der Tassen erinnerte an russisches Porzellan.

„Nimm Platz, Rimas“, bat Valdas, schenkte ihm Kaffee in die Tasse und bediente sich an den Broten. Er schleckte die Butterspur vom Knöchel seines Daumens und ließ sich unter Leonid Iljitschs Porträt in seinen Sessel sinken. „Ich gebe dir gleich, was du von mir möchtest“, sagte er. „Doch zunächst muss ich dir erzählen, wer demnächst bei mir anfängt.“

„Wer?“ Rimas wählte seine Brote aus. Ihm schmeckte das dunkle litauische besser als das weiche Weißbrot, das überall in der Union gleich war. Er nahm bereits seinen intensiven Duft auf, eine Spur Honig, etwas Kümmel und von dünnen Schilfblättern umwickelt. In der ganzen Union war litauisches Brot beliebt und legendär. Er nahm zwei Scheiben, belegt mit herzhafter geräucherter Wurst.

„Pranas Tarvydas‘ Tochter Rasa“, antwortete Valdas.

Beim Gedanken an den Milizchef von Kaunas und dessen gnadenlosen Ruf sog Rimas scharf die Luft ein. Durch die kleine Zahnlücke entstand ein leiser Pfeifton, ähnlich wie der Wind, der mit dem Laub spielte. „Welche Ehre“, sagte er. „Dann dürfte sie bald am Platz der Genossin Egidija sitzen.“

Valdas schüttelte den Kopf, während er an der mit Pastete bestrichenen Weißbrotscheibe kaute. „Nein. Rasa Tarvydė verdient sich nur ein wenig Geld dazu, indem sie in der Produktion mithilft. Sie beginnt eine Ausbildung im Staatsdienst.“

Rimas wusste über das Leben jedes Bürgers in der litauischen SSR Bescheid, kannte ihre Akten, kannte ihre Gewohnheiten, was sie zum Frühstück aßen und wann sie ihren ersten Wodka tranken; er wusste, wer wen liebte und wer nicht mehr, wer mit wem stritt und wer mit wem glücklicher war. Doch Pranas Tarvydas gehörte zu jenen Leuten, die sich um den Sozialismus mehr als verdient gemacht hatten, als dass deren Integrität in Frage stand. Damals war er Rimas‘ Vorgesetzter gewesen und er hatte dem Mann mit dem verstümmelten Daumen seine Karriere beim Geheimdienst zu verdanken.

„Wie löblich von ihr, dass sie die Arbeit in der Werkhalle vorzieht“, bemerkte er, lenkte von seinem bescheidenen Wissen über Rasa ab. „Mein alter Freund.“ Fordernd streckte er die Hand aus, rieb mit dem Daumen über Zeige- und Mittelfinger. „Deine Berichte, wenn ich bitten darf? Ich weiß, du lässt mich nie im Stich.“

Während Valdas die Schublade aufschloss und die Mappen aus dem dünnen Karton mit dem GOST-Zeichen auf seinem Knie ablegte, fragte er: „Wenn Tarvydas dein Ziehvater war, warum bist du nicht auch zum Kommissariat? Schlau genug bist du ja und dir macht keiner was vor.“

Auf Valdas‘ Lippen zog jenes Grinsen auf, das nicht jeder durchschaute. War es Spott? Oder Wohlwollen? Wusste er eine bessere Antwort? Selbst Rimas tat sich schwer damit, Valdas‘ Gedanken einzuordnen. Gedanken ließen sich nicht einfangen, sie bestanden aus einem anderen Material als Worte.

„Man kann dem Sozialismus auf unterschiedlichen Arten dienen. Entweder als Hammer, oder als Sichel. Ob du besser zum Hammer als zur Sichel geeignet bist, entscheidet die Partei“, entgegnete Valdas trocken. Seinen Mund zu einem ein ernsten, schmalen Strich verzogen, reichte er ihm die unterschiedlich dicken Mappen.

© Ira Ebner 2019


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