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* Mu isamaa: Mein Vaterland; die damals noch verbotene estnische Nationalhymne
** Savisaar, Edgar: 1990 – 1992 estnischer Premierminister, 2001 – 2004 Oberbürgermeister der Stadt Tallinn; einer der Mitbegründer der Unabängigkeitsbewegung Rahvarinne (Volksfront)
Rechtzeitig zum 30. Mal, in dem sich die Wende von 1989 jährt, ist #BuchZwei "Der Gesang der Freiheit" erschienen. Doch der Mauerfall war lediglich eine Wegmarke (denn 1989 ist wahnsinnig viel in den ehemaligen Ostblockstaaten geschehen, was dagegen zu sehr verblasst), während bereits seit Michail Gorbatschows Amtsantritt 1985 die sowjetische Gesellschaft einen Umbruch erlebte. Glasnost (Offenheit) und Perestrojka (Erneuerung) waren jene Schlagworte, unter denen Meinungsfreiheit, Demokratie und Pluralismus den alleinigen Führungsanspruch der Kommunistischen Partei ablösten.
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Wilde Erdbeeren, lange, laue Sommernächte - "Der Gesang der Freiheit" beschreibt das nordische Lebensgefühl |
Das Thema in #BuchZwei ist die "Singende Revolution". Doch wovon erzähle ich und wie kam es dazu, dass sich die Esten, Letten und Litauer mit ihren alten Liedern von Freiheit, Tapferkeit und der Liebe zu ihren Ländern aus der Kremlherrschaft befreien konnten?
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 stellte eine weitere Zäsur dar - der Umgang der sowjetischen Behörden mit dem GAU zeigte, dass es um die inneren Zustände des Weltreichs nicht zum Besten stand. Aber nicht nur. In Estland begann der Protest gegen die Verseuchung von Grundwasser, Luft und Böden im Norden des Landes, wo aus den Gruben von Kohtla-Järve Ölschiefer gefördert wurde.
Na, wer hat #BuchEins gelesen? Ist es Zufall, dass Lagle aus einem Dorf am Rand der Ölschiefergruben aufwächst und ihr Vater seinen Posten als Regionalpolitiker verliert, weil er auf die zunehmende Umweltverschmutzung hinweist? Und auch Enn als Chemiker ist im Bilde, da er Boden- und Wasserproben analysiert und die Messwerte eine andere Sprache als die der Parteiführung sprechen.
Im Laufe des Jahres 1987, auf dem Höhepunkt der Perestrojka, formiert sich die Umweltbewegung und bald werden in Estland die ersten Stimmen laut, die mehr Selbstbestimmung fordern. Am 02. Februar 1988, an jenem Jahrestag, als Lenin Estland als unabhängigen Staat anerkannt hatte, kam es in Tartu zur ersten Demonstration. Dabei tauchten trotz ihres Verbots die blau-schwarz-weißen Nationalfahnen auf. Die Miliz prügelte auf Geheiß von EKP-Vorsitzenden Karl Vaino die Demonstranten nieder, doch er rechnete nicht damit, dass ihn sein hartes Vorgehen einige Monate später zu Fall bringen würde.
Im Juni 1988 begann die "Singende Revolution" mit einer weiteren Demonstration in Tallinn, und bevor ich Euch noch mehr Zahlen und Fakten um die Ohren knalle, erzähle ich davon.
Fast senkrecht stand die Mittsommersonne im
Himmel, flutete den Platz unterhalb der Mauern des Langen Hermann. Bevor Enn
sich der Bühne zuwandte, steckte er Tuule eine Kornblume in die blonden Haare.
Noch sang ein Chor, junge Frauen trugen ihre bunten Trachten, prächtige Hauben
und Silberbroschen an ihren Blusen, Männer in schlichten schwarzen Gehröcken
flankierten sie.
„Viel
Erfolg“, wünschte ihm Lagle.
Auf
ihren Zöpfen trug sie den Margaritenkranz. Er strich ihre Stirn, ihre Wange, dann
ging er zur Bühne. Hinter ihm füllte eine Menschenmenge den Platz. Die Miliz
umringte sie, diesmal ohne Kampfausrüstung. Klamme Feuchtigkeit stieg aus den
schattigen alten Mauern. Die Holzstufen zur Bühne fühlten sich unter Enns
Schritten an, als könnten sie jeden Augenblick zusammenkrachen.
Einstimmig
sang der Chor Mu isamaa*, die Menge mit
ihm. Die Hymne drang an Enns Ohren, während er im Schatten wartete. Unmerklich
atmete er einen schweren Seufzer fort, presste die Lippen zusammen, bevor er
mitsang. Der letzte Klang der Hymne verhallte, die Menge applaudierte. Von hier
oben aus konnte Enn ausmachen, wieviele Menschen sich hier versammelt hatten. Zehntausende?
Helles Abendlicht flutete die Ecke der Bühne, dort erkannte er Savisaar** unter
den angekündigten Rednern. Eine knappe, anerkennende Begrüßung, dann stellte er
sich zu ihnen.
„Nach
dem Auftritt der Rockgruppe sind Sie an der Reihe“, hörte er einen der Redner
Savisaar zuflüstern.
Unten
johlte die Menge, als die Band die Mitte der Plattform einnahm. Sie begann jene
aufrührerische Musik zu spielen, die Laine und Kalev hörten. Sicher begleiteten
sie auswendig den Refrain, den eine junge Frau voller Inbrunst sang. Der
Bassist schob sich neben die Sängerin ans Mikrofon und begann mit seiner
Abrechnung mit Vaino. Die Menge antwortete ihm mit lautem Jubel und Applaus.
„Vaino
tritt zurück! Vaino tritt zurück!“
Enn
wurde klar, dass dies mehr als die Antwort einer aufgeheizten Menge war. Diese
Forderung trug er mit, denn im Namen von Vainos Partei war er aus der Schule
heraus wie ein Verbrecher abgeführt worden, hatte er in einem modrigen,
finsteren Keller gesessen, eine Schande für ihn.
Wie eine Wolke, die sich
vor die Sonne schob, versperrten ihm uniformierte Rücken den Blick. Einer der
Uniformierten, der Milizchef, beendete den Auftritt mit einem Handzeichen.
Abrupt hörte die Band auf zu spielen.
„Vaino tritt zu ... rück
...“, verstummten die Rufe.
„Sie können hier nicht
mehr bleiben!“, richtete er sich an Savisaar und die anderen. „Beenden Sie
diese Kundgebung hier!“
„Die Kundgebung ist
genehmigt! Sehen Sie nicht, wie viele Menschen gekommen sind?“
„Genau!“, mischte sich
einer der Redner ein. „Wir können sie nicht alle nach Hause schicken.“
Der Milizchef wiegte den
Kopf. Unbehagen und Zorn stiegen in Enn auf, als er ihm in die Augen sah.
Vielleicht befahl er seinen Männern, sie alle abzuführen? Und der Rest der
Truppe sprengte in die Menge, schlug und trat zu? Enn fasste seinen Mut
zusammen, fragte: „Gibt es nur Schwierigkeiten wegen des Ortes, oder der
Kundgebung selbst?“
Pfiffe und Buhrufe
gellten aus der Menge. Sie galten den Uniformierten. Nur noch ein Funke, dann kippt die Stimmung, beunruhigt suchte Enn
nach Lagle. Diesmal wären wir in der Überzahl,
sie überfordert. Sie müssten mit Wasserwerfern und Tränengas anrücken, uns alle
verhaften – was zu einem Aufstand führen würde.
„Genossen“, sagte der
Milizchef, verschränkte die Arme auf dem Rücken ... * Mu isamaa: Mein Vaterland; die damals noch verbotene estnische Nationalhymne
** Savisaar, Edgar: 1990 – 1992 estnischer Premierminister, 2001 – 2004 Oberbürgermeister der Stadt Tallinn; einer der Mitbegründer der Unabängigkeitsbewegung Rahvarinne (Volksfront)
Im November 1988 erklärte der estnische Oberste Sowjet die Souveränität von Moskau, im März 1990 fanden die ersten freien Parlamentswahlen statt. Noch einige Male versuchte Moskau, die abtrünnigen Balten mit Gewalt unter seine Herrschaft zurückzuzwingen. Im Mai 1990 versuchte, ein aufgehetzter Mob der von Russen dominierten Interfront, das Parlament in Tallinn zu stürmen, doch dank der Zivilcourage der Esten misslang dies gründlich. Während im litauischen Vilnius Anfang 1991 Panzer rollten und 13 Menschen bei einem Putschversuch von Militär und kommunistischer Hardliner starben, blieben die Esten verschont.
1991 war die Sowjetunion ein taumelndes Weltreich. Gorbatschow versuchte, es mit einem neuen Unionsvertrag - ohne die Balten - zusammenzuhalten, doch während seines Urlaubs auf der Krim putschten Militär und Teile seines Kabinetts gegen ihn. Der Putsch scheiterte, und die Esten, Letten und Litauer nutzten den Augenblick, um ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Seit 2004 sind die drei Länder Mitgliedsstaaten und seit Kurzem hat Estland einen nicht-ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat inne.
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"Wir werden erreichen, was wir wollen!" Eines der Zitate aus der Episode. Wer hat's gesagt? |
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