Himmel, Erde, Schnee RELOADED #6: Fanfare für Gorbi

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Das ist eine meiner ältesten Szenen. 1992 entstand sie noch relativ frisch von den Eindrücken der eben untergegangenen UdSSR. Ich habe die Begegnung des zwölfjährigen Kalev mit Michail Gorbatschow für #BuchZwei aufgehübscht und ausgeschmückt. Fiktion und Fakten vermischen sich ein wenig, wahr ist allerdings, dass Gorbatschow bei seinem Besuch in Tallinn im Februar 1987 die estnischen Jugendlichen als "junge Letten" angesprochen hatte.


Vor dem Spiegel im Flur setzte Kalev sein Pionierschiffchen auf, mimte einen feierlichen Gesichtausdruck. Er legte zum Gruß die Hand über die Stirn, spürte sein Herz aufgeregt rasen. In zwei Stunden würde er dem Generalsekretär gegenüberstehen. Insgeheim hoffte er, er sei der ausgewählte Pionier, der ihm die Blumen überreichen durfte. Im Hintergrund bemerkte er seine Mutter. Ihr ebenmäßiges Gesicht näherte sich seinem, während sie seine Jacke ausbreitete.

          „Warte, Kalev“, sagte sie, legte die Pionierjacke auf ihrem Ellenbogen ab. Geschickt korrigierte sie den Knoten seines Halstuchts, lächelte ihm liebevoll zu. „Ich freue mich für dich, dass du zu den Ausgewählten gehörst, die Gorbatschow am Flughafen begrüßen. Denk daran, deine rechte Hand für den Gruß zu benutzen. Und tritt ihm ordentlich unter die Augen.“ Ihre Hand verweilte auf seiner Schulter, dann hielt sie ihm die Jacke hin. „Erzähl mir dann wie es war. Was der Präsident sagte, und was Raissa Maximowna anhatte.“

          „Ja, Ema“, antwortete er, zog genervt einen Flunsch. Als würde mich das interessieren! Er schlüpfte in die Jacke. Musste seine Mutter ihm noch helfen, sie zu schließen?

„Hast du warme Unterwäsche angezogen?“, fragte sie.

„Ja, Ema.“

„Dir ist bewusst, dass du längere Zeit in der Kälte stehen wirst?“
Nickend beugte er sich herab. Die neuen Stiefel, die er über die enganliegenden Socken streifte, fühlten sich weicher und angehmer an als erhofft. Bequem zum Stehen.
„Stell dich einmal hin, lass ein Foto von dir machen.“ Sie nahm die Lomo-Kamera von der Anrichte, zeigte an die Wand.
Er nahm Haltung an.
„Nicht so ernst! Schau ein wenig freundlicher.“
Zaghaft brachte er ein Lächeln zustande, als sie den Auslöser drückte. „Ich gehe jetzt zum Bus, der uns zum Flughafen bringt“, sagte er, lief noch einmal den Flur auf und ab. „Die Stiefel passen prima.“

Während der Himmel transparentes Blau zeigte, fegte der Nordwind über die Piste des Flughafens. Obwohl die Triebwerke der Iljuschin abgeschaltet waren, rotierten sie nach; noch immer dröhnten Kalev die Ohren von dem höllischen Kreischen. Mit den anderen Pionieren stand er in einer Reihe, rote Schiffchen in Einheit mit den Fähnchen, Hammer und Sichel, wogende Ostsee. Seine Finger fühlten sich bereits starr vor Kälte an, der Wind durchdrang den Stoff seiner einfachen schwarzen Hose. Lediglich der Schaft der Stiefel wärmte seine Waden. Angespannt blickte er auf die Flugzeugtür, die beiseite schwang, befühlte vorsichtig mit der Zunge seine Lippen, ob sie zwischenzeitlich keine Eiskristalle angesetzt hatten.
Ein Gedanke verlor sich an seinen Vater. Ob er stolz auf ihn wäre? Was er ihm mit auf den Weg zu seinem bisher größten Auftritt gegeben hätte? Möglicherweise hätte er ihn fotografiert, so wie damals am ersten Schultag. Das seltsame Ziehen unterhalb seiner Brust machte sich wieder bemerkbar, die Gewissheit, dass das die letzte Erinnerung an seinen Vater war, zerrte an ihm. Kalev atmete durch, achtete darauf, dass er sein Kinn anhob, Haltung einnahm.
          Gorbatschow, seine Frau untergehakt, stieg aus, lächelte, winkte in die Kameras. Aus der Reihe der Pioniere erklang eine Fanfare. Dann wiegte er die Stufen hinunter, Präsident Rüütel entgegen. Große Begrüßung, Wortfetzen, die der Wind zu Kalev trug. Er hob seine rechte Hand zum Pioniergruß, die inzwischen eingefroren sein musste, wagte einen Seitenblick auf die beiden Männer. Nebeneinander schritten sie die Formation ab, blieben in der Mitte stehen.
          „Junge Letten!“
          Irritation auf dem Gesicht des Präsidenten. „Michail Sergejewitsch, Estlands Jugend steht vor Ihnen.“
Kalev stutzte. Ernsthaft? Er nahm wahr, wie ihn sein Nachbar fragend von der Seite ansah. Aus der Reihe trat der Junge mit dem Blumenstrauß vor, mit einem auswendig gelernten Gedicht überreichte er sie Gorbatschow. Dessen lächelnde Lippen formten Worte des Dankes. Er wandte sich ab, Kalev sah die Rücken der beiden Männer, Raissa Maximownas Kappe. Sie stiegen in eine polierte schwarze Staatskarrosse ein.

„Habt ihr das gehört? Nennt uns Gorbi junge Letten!“ Hinter Kalev klang die Stimme eines Jungen durch den Bus.
          Lachen. Kalev wandte sich um, drehte das Pionierschiffchen auf dem Zeigefinger und sagte: „Ich wusste nicht, dass ich auch noch Lette bin, wenn ich schon in Kirgisien geboren bin!“
          „Kortelainen, was erzählst du?“, rief ein anderer Junge, eine Klasse höher als er, zufällig von der gleichen Schule. „Du hast doch keine Schlitzaugen!“
          Ungläubig, belustigt und neugierig richteten sich die Blicke der anderen auf ihn. Er verlor das Schiffchen, es landete im Mittelgang.
          „Das stimmt, leider habe ich meine Urkunde nicht dabei. Kann ich dir aber Schwarz auf Weiß geben.“ Kalev stand auf, hob das Schiffchen auf. Das Schmelzwasser Dutzender Schuhprofile bildete einen dunklen Rand auf dem roten Stoff.
          „In erster Linie bist du Este!“
          „Natürlich bin ich das!“ Mit dem Handrücken wischte er das Wasser ab, lachte selbstsicher in die Reihen.
          „Da besucht er einmal Estland und weiß nicht, mit wem er es zu tun hat. Sind wir etwa Letten?“, sagte der Junge hinter ihm, lehnte sich wieder in den Sitz. „Jedenfalls bin ich froh, wenn ich wieder zu Hause bin. Mir ist ganz schön kalt. Und hungrig bin ich auch.“


© Ira Ebner 2019
 

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