Teine advent / Zum zweiten Advent: So dunkel die Nacht - Leseprobe "Unter dem roten Stern - Teil 1 der Himmel, Erde, Schnee - Saga"
Social Media Hashtags #nordicstories #himmelerde
#schnee #roman #baltikum #baltic #estland #estonia #coldwar
#sadlovestory #1970s #1980s #ussr #zeitgeschichte #iraebner #relaunch #bucheins
© Ira Ebner 2018
Meine Lieben, noch liegen kalte, dunkle Nächte vor uns. Wir gehen durch die Dämmerung und unsere Herzen freuen sich über die warmen Lichter, die hinter Fensterscheiben glimmen.
So dunkel die Nacht auch sein mag, Mut und Zuversicht können uns beflügeln. Wie auch am 1. Advent möchte ich Euch heute ein weiteres Mal in "Unter dem roten Stern" hereinlesen lassen. Ich habe bewusst winterliche Passagen gewählt, und welche Stadt - ratet - erinnert so sehr an den Winter? Doch vielmehr, in der Zeit, in der BuchEins spielt, war Weihnachten ein verbotenes Fest, offiziell feierte man in der UdSSR Neujahr. Doch dazu mehr nächsten Sonntag.
Ich schicke meinen liebsten Protagonisten Enn Treimann auf die Reise und Euch liebe Grüße aus ...
Moskau, Dezember 1974
Im Licht des Projektors tanzten kleine
Stäubchen, während Enn im Hörsaal der Lomonossow-Universität seinen Fachvortrag
hielt.
„Damit
dürfte ein weiterer Fortschritt im Feld der Analytischen Chemie gelungen sein“,
fuhr er fort, trat zur Seite.
Er
erkannte im Halbdunkel die Gesichter seiner Kollegen aus der gesamten Union.
Schatten lagen auf ihren Wangen, in Brillengläsern spiegelte sich der Schimmer
des Projektors. Konzentriert behielt Enn seinen Redefluss bei, er bemühte sich
um die korrekte Betonung des Russischen. Umso mehr, da er zu den wenigen
estnischen Chemikern auf dem Symposium gehörte.
Vor
langer Zeit hatte er die Sprache der neuen Herren gelernt. In der Schule, und
damit die neue Geschichtsschreibung. Die Wahrheit kannte er, doch was hatte sie
ihm genützt, wenn das Überleben zählte?
Routiniert
spulte er seinen Vortrag ab. Er wollte der Beste sein, so wie damals, um zu
überleben. Seine Mutter war ausgefallen, weil sie sich mit den neuen
Gegebenheiten nicht abfinden konnte. Zuerst der Krieg auf dem Festland, dann
die Besatzung. Als er innehielt, schlich sich die Spur des Geruchs des Hauses
auf Saaremaa in seine Nase. Der Geruch des frisch gewaschenen Haares seiner
Schwester. Er hatte Ilses Haare gewaschen und gekämmt, weil sich die Mutter in
ihrer Dunkelheit eingeschlossen hatte.
„Pass auf Ilse auf.“ Unterschwelliger Zorn
lag in Enns Stimme, als er sich von seiner Mutter verabschiedete.
Die milde Herbstsonne flutete den
Rathausplatz von Kuressaare, heute Kingissepa. Unter bauschigen weißen Wolken
verfärbte sich das Laub. Er erinnerte sich an den Tag, als er auf den Lastwagen
stieg, der ihn und die anderen jungen Männer seines Alters aufs Festland
brachte. Heinz hatte ihn begleitet, doch da er ein Jahr jünger war, wurde er
nicht in die Marine eingezogen.
„Ich freue mich, dass du dich hier von
mir verabschieden willst“, fuhr Enn fort, sah dabei zu Heinz herüber. Er
hoffte, er möge seine stille Bitte verstehen, sich um die Schwester und die
Mutter zu kümmern. „Ich werde drei Jahre lang fort sein.“ Er senkte die Stimme,
umfasste den Ärmel ihrer Samtjacke. „Versprich mir, dass du aufhörst, dich vor
der Welt zu verstecken.“
Ihr zierlicher Körper bebte leicht.
War es Rührung, oder die Furcht vor dem Leben? Ein befangenes Lächeln huschte
über ihre Lippen. In ihren Augen flackerte ein warmes Leuchten auf, das seinen
Ursprung tief in ihrem Herzen hatte. „Ilse versorgt die Ziege sehr gut“, lenkte
sie ab.
„Sie übernimmt die Verantwortung, die
ihr gerecht ist.“
Der Motor heulte auf, als ihn der
Fahrer anließ.
„Steigt ein! Los!“, schrie der Maat,
drängte die Rekruten auf die Ladefläche.
Enns Hand glitt von der Samtjacke, blickte
seiner Mutter tief in die warmen blauen Augen. „Ema, ich liebe dich“, flüsterte
er.
Er kletterte auf die vibrierende Plattform,
sah zu Heinz und seinem Vater herunter. Der Lastwagen setzte sich in Bewegung. Um
sein Herz schlich sich die Sorge um seine Mutter, ob sie sich nicht wieder in
die Stube zurückzog. Er würde fort sein und sie nicht mehr ersetzen können.
Stiller Zorn richtete sich auf seine Mutter, weil sie auch ihn alleingelassen
hatte.
Hier
stand er, Jahrzehnte später, und keiner der Wissenschaftler im Saal kannte seine
Geschichte. Möglicherweise forschten einige von ihnen an Medikamenten, die
Seelen wieder heilten und stellten ihre Erfolge so vor, wie er seinen Erfolg
vorstellte.
Enn
wechselte das Bild im Projektor. „Sehen Sie, das ist der Versuch“, erklärte er,
zeigte ein neues Bild. „Und hier habe ich den Nachweis erbracht. Diese Methode
der Analyse, die ich Ihnen beschrieben habe, bedeutet beträchtlich mehr
Effizienz.“
Als
er zur Wand ging, um das Licht anzuschalten, regte sich Geflüster. Dann erhob
sich der Applaus für ihn. Enn nahm ihn auf, dann entfachte er eine Flamme in
ihm. Doch er zeigte ihnen nicht, was er gerade empfand – der Tag in Kuressaare
verschwamm in der Ferne.
„Haben
Sie Fragen?“ Die Hände vor dem Schoß
verschränkt blickte er in die Reihen, beendete den Beifall.
Sein Blick
streifte nach hinten, auf die Tafel. Er las die Formeln in seiner eigenen
Handschrift. Dann nahm er die Hände wahr, die sich hoben. Einen nach dem
anderen rief er auf, hörte zu, gab Antworten.
In einem prächtigen Saal stand das
Büffet festlich aufgebaut auf weiß gedeckten Tischen, daneben hing Lenin in
roter und goldener Seide über einem Podium. Lüster erstrahlten über poliertem
Parkett und Teppichen mit dickem Flor. Enn betrat den Saal, an seiner Seite
hielt ein Kollege von der Universität Tartu Schritt mit ihm.
„Gleich
werden sie die diesjährigen Preisträger bekanntgeben“, flüsterte ihm der
Kollege zu.
Bevor
Enn sich auf einen mit Samt bespannten Stühle setzte, sah er zu den hohen
Fenstern, die in den Moskauer Winter zeigten. Noch immer fiel Schnee, in der
Dämmerung wirkten die Flocken schwarz. Die Hauptstadt sandte ihre Lichter in
den Himmel, wo sie mit dem Schnee zu einer goldenen Kuppel verschmolzen.
Auf
dem Podium nahmen die berühmtesten Wissenschaftler des Landes Platz. Enn kannte
ihre Namen und Gesichter aus dem Fernsehen und den Zeitungen. Flüstern erhob
sich in den Reihen vor ihm, Namen fielen. Er hörte genau hin, während er mehr
Interesse an dem Gremium vorgab. Oder dem Büffet, das er mit Seitenblicken auf
seltene Leckerbissen absuchte.
Musik
dröhnte aus einem Lautsprecher. Der Vorsitzende, ein Moskauer Professor, erhob
sich. Applaus.
„Aus
der gesamten Sowjetunion haben sich führende Wissenschaftler in der ehrwürdigen
Lomonossow-Universität zusammengefunden, um ihre Erkenntnisse und die
Ergebnisse ihrer ehrgeizigen Forschungen mit uns zu teilen. Es ist so weit, wir
haben verschiedene Vorträge aus den einzelnen Fachgebieten gehört.“ Anspannung
und misstrauische Blicke füllten den Raum, während er in die Reihen sah.
Langsam hob er das Blatt vom Tisch und verlas die Namen. „Dies sind die
diesjährigen Träger der Medaille für ihre Verdienste für den Sozialismus.“
Zuerst
die Russen. Unter Beifall traten sie nach vorne, nahmen ihre Medaillen als Verdiente Wissenschaftler entgegen. Als
nächstes rief er einen Ukrainer zu sich.
„Wir
Esten werden als Letzte aufgerufen“, flüsterte der Mann aus Tartu Enn zu.
„Falls Sie oder ich überhaupt in die engere Wahl gekommen sind.“
„Entweder
wir, oder die Armenier.“ Enn drehte die Handfläche nach oben, während er über
den Gang hinweg zu den braunhäutigen, dunkelhaarigen Männern nickte. Er strich
seine Krawatte glatt und befasste sich mit ihrem Muster, ließ die Nationen an
sich vorbeiziehen, applaudierte dann anerkennend.
„Und
aus der Estnischen Sowjetrepublik der Genosse Enn Trajman, Doktor der Chemie.“
Trajman – der seltsame Klang seines Namens
erfasste Enn. Ein Augenschlag, der Bruchteil einer Sekunde.
„Gratulation“,
sagte der Kollege, doch der Glückwunsch streifte an Enn vorbei.
Er stand auf, schritt wie auf weichem Moos
über den Teppich zum Podium. Ihm kam es unwirklich vor, als Letzter unter den
Augen des ganzen Saals nach vorne zu treten. Die altersbefleckten Finger des
Professors hefteten ihm die Auszeichnung Verdienter
Wissenschaftler ans Revers. Eine Studentin in schwarzem Kleid beeilte sich,
ihm einen Blumenstrauß zu überreichen und ihm auswendig gelernte Glückwünsche ins
Ohr zu säuseln. Enn stellte sich in die Reihe, schloss sie ab. Wieder erscholl
die Musik. Ihre Feierlichkeit, die stehenden Ovationen und das Dröhnen aus dem
Lautsprecher stiegen ihm ins Blut.
Draußen in der Winternacht glänzten die
eisigen Sterne eines fremden Himmels. Der Koffer drückte die Überdecke aus
rotem Steppstoff ein, als Enn die Urkunde auf seine Hemden und Hosen legte. Aus
der dünnen Plastiktüte schimmerte die Schneekugel, die er seiner Tochter
mitbrachte. In Gedanken war er bereits bei ihr. Sie würde sich über das
Souvenir aus Moskau freuen, es vor ihre Bücher ins Regal stellen. Er
betrachtete die Medaille, die an seinem Jackett heftete. Signe sollte sich
freuen, Worte ihrer Anerkennung bedeuteten ihm mehr als der Empfang, den
Jelizow für ihn in der Technischen Fachschule vorbereitete.
Ema, ich liebe dich – das Dorf lag weit
zurück, weit unter ihm das alte Leben. Im Spiegelschrank des Zimmers im Hotel Ukraina betrachtete Enn sich selbst. Die
Medaille stand ihm, doch sie hatte ihren Preis. Dass er sie als Este verliehen
bekommen hatte, als Letzter in der Rangordnung. Er spürte, dass ihn das Gremium
aber nicht vergessen würde.
Comments
Post a Comment