Teine advent / Zum zweiten Advent: So dunkel die Nacht - Leseprobe "Unter dem roten Stern - Teil 1 der Himmel, Erde, Schnee - Saga"

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Meine Lieben, noch liegen kalte, dunkle Nächte vor uns. Wir gehen durch die Dämmerung und unsere Herzen freuen sich über die warmen Lichter, die hinter Fensterscheiben glimmen. 



So dunkel die Nacht auch sein mag, Mut und Zuversicht können uns beflügeln. Wie auch am 1. Advent möchte ich Euch heute ein weiteres Mal in "Unter dem roten Stern" hereinlesen lassen. Ich habe bewusst winterliche Passagen gewählt, und welche Stadt  - ratet - erinnert so sehr an den Winter? Doch vielmehr, in der Zeit, in der BuchEins spielt, war Weihnachten ein verbotenes Fest, offiziell feierte man in der UdSSR Neujahr. Doch dazu mehr nächsten Sonntag.

Ich schicke meinen liebsten Protagonisten Enn Treimann auf die Reise und Euch liebe Grüße aus ...

Moskau, Dezember 1974

Im Licht des Projektors tanzten kleine Stäubchen, während Enn im Hörsaal der Lomonossow-Universität seinen Fachvortrag hielt.

          „Damit dürfte ein weiterer Fortschritt im Feld der Analytischen Chemie gelungen sein“, fuhr er fort, trat zur Seite.
          Er erkannte im Halbdunkel die Gesichter seiner Kollegen aus der gesamten Union. Schatten lagen auf ihren Wangen, in Brillengläsern spiegelte sich der Schimmer des Projektors. Konzentriert behielt Enn seinen Redefluss bei, er bemühte sich um die korrekte Betonung des Russischen. Umso mehr, da er zu den wenigen estnischen Chemikern auf dem Symposium gehörte.
          Vor langer Zeit hatte er die Sprache der neuen Herren gelernt. In der Schule, und damit die neue Geschichtsschreibung. Die Wahrheit kannte er, doch was hatte sie ihm genützt, wenn das Überleben zählte?
          Routiniert spulte er seinen Vortrag ab. Er wollte der Beste sein, so wie damals, um zu überleben. Seine Mutter war ausgefallen, weil sie sich mit den neuen Gegebenheiten nicht abfinden konnte. Zuerst der Krieg auf dem Festland, dann die Besatzung. Als er innehielt, schlich sich die Spur des Geruchs des Hauses auf Saaremaa in seine Nase. Der Geruch des frisch gewaschenen Haares seiner Schwester. Er hatte Ilses Haare gewaschen und gekämmt, weil sich die Mutter in ihrer Dunkelheit eingeschlossen hatte.
          „Pass auf Ilse auf.“ Unterschwelliger Zorn lag in Enns Stimme, als er sich von seiner Mutter verabschiedete.
          Die milde Herbstsonne flutete den Rathausplatz von Kuressaare, heute Kingissepa. Unter bauschigen weißen Wolken verfärbte sich das Laub. Er erinnerte sich an den Tag, als er auf den Lastwagen stieg, der ihn und die anderen jungen Männer seines Alters aufs Festland brachte. Heinz hatte ihn begleitet, doch da er ein Jahr jünger war, wurde er nicht in die Marine eingezogen.
          „Ich freue mich, dass du dich hier von mir verabschieden willst“, fuhr Enn fort, sah dabei zu Heinz herüber. Er hoffte, er möge seine stille Bitte verstehen, sich um die Schwester und die Mutter zu kümmern. „Ich werde drei Jahre lang fort sein.“ Er senkte die Stimme, umfasste den Ärmel ihrer Samtjacke. „Versprich mir, dass du aufhörst, dich vor der Welt zu verstecken.“
          Ihr zierlicher Körper bebte leicht. War es Rührung, oder die Furcht vor dem Leben? Ein befangenes Lächeln huschte über ihre Lippen. In ihren Augen flackerte ein warmes Leuchten auf, das seinen Ursprung tief in ihrem Herzen hatte. „Ilse versorgt die Ziege sehr gut“, lenkte sie ab.
          „Sie übernimmt die Verantwortung, die ihr gerecht ist.“
          Der Motor heulte auf, als ihn der Fahrer anließ.
          „Steigt ein! Los!“, schrie der Maat, drängte die Rekruten auf die Ladefläche.
          Enns Hand glitt von der Samtjacke, blickte seiner Mutter tief in die warmen blauen Augen. „Ema, ich liebe dich“, flüsterte er.
          Er kletterte auf die vibrierende Plattform, sah zu Heinz und seinem Vater herunter. Der Lastwagen setzte sich in Bewegung. Um sein Herz schlich sich die Sorge um seine Mutter, ob sie sich nicht wieder in die Stube zurückzog. Er würde fort sein und sie nicht mehr ersetzen können. Stiller Zorn richtete sich auf seine Mutter, weil sie auch ihn alleingelassen hatte.  
          Hier stand er, Jahrzehnte später, und keiner der Wissenschaftler im Saal kannte seine Geschichte. Möglicherweise forschten einige von ihnen an Medikamenten, die Seelen wieder heilten und stellten ihre Erfolge so vor, wie er seinen Erfolg vorstellte.
          Enn wechselte das Bild im Projektor. „Sehen Sie, das ist der Versuch“, erklärte er, zeigte ein neues Bild. „Und hier habe ich den Nachweis erbracht. Diese Methode der Analyse, die ich Ihnen beschrieben habe, bedeutet beträchtlich mehr Effizienz.“
          Als er zur Wand ging, um das Licht anzuschalten, regte sich Geflüster. Dann erhob sich der Applaus für ihn. Enn nahm ihn auf, dann entfachte er eine Flamme in ihm. Doch er zeigte ihnen nicht, was er gerade empfand – der Tag in Kuressaare verschwamm in der Ferne.
          „Haben Sie Fragen?“  Die Hände vor dem Schoß verschränkt blickte er in die Reihen, beendete den Beifall.
Sein Blick streifte nach hinten, auf die Tafel. Er las die Formeln in seiner eigenen Handschrift. Dann nahm er die Hände wahr, die sich hoben. Einen nach dem anderen rief er auf, hörte zu, gab Antworten.

In einem prächtigen Saal stand das Büffet festlich aufgebaut auf weiß gedeckten Tischen, daneben hing Lenin in roter und goldener Seide über einem Podium. Lüster erstrahlten über poliertem Parkett und Teppichen mit dickem Flor. Enn betrat den Saal, an seiner Seite hielt ein Kollege von der Universität Tartu Schritt mit ihm.
          „Gleich werden sie die diesjährigen Preisträger bekanntgeben“, flüsterte ihm der Kollege zu.
          Bevor Enn sich auf einen mit Samt bespannten Stühle setzte, sah er zu den hohen Fenstern, die in den Moskauer Winter zeigten. Noch immer fiel Schnee, in der Dämmerung wirkten die Flocken schwarz. Die Hauptstadt sandte ihre Lichter in den Himmel, wo sie mit dem Schnee zu einer goldenen Kuppel verschmolzen.  
          Auf dem Podium nahmen die berühmtesten Wissenschaftler des Landes Platz. Enn kannte ihre Namen und Gesichter aus dem Fernsehen und den Zeitungen. Flüstern erhob sich in den Reihen vor ihm, Namen fielen. Er hörte genau hin, während er mehr Interesse an dem Gremium vorgab. Oder dem Büffet, das er mit Seitenblicken auf seltene Leckerbissen absuchte.
          Musik dröhnte aus einem Lautsprecher. Der Vorsitzende, ein Moskauer Professor, erhob sich. Applaus.
          „Aus der gesamten Sowjetunion haben sich führende Wissenschaftler in der ehrwürdigen Lomonossow-Universität zusammengefunden, um ihre Erkenntnisse und die Ergebnisse ihrer ehrgeizigen Forschungen mit uns zu teilen. Es ist so weit, wir haben verschiedene Vorträge aus den einzelnen Fachgebieten gehört.“ Anspannung und misstrauische Blicke füllten den Raum, während er in die Reihen sah. Langsam hob er das Blatt vom Tisch und verlas die Namen. „Dies sind die diesjährigen Träger der Medaille für ihre Verdienste für den Sozialismus.“
          Zuerst die Russen. Unter Beifall traten sie nach vorne, nahmen ihre Medaillen als Verdiente Wissenschaftler entgegen. Als nächstes rief er einen Ukrainer zu sich.
          „Wir Esten werden als Letzte aufgerufen“, flüsterte der Mann aus Tartu Enn zu. „Falls Sie oder ich überhaupt in die engere Wahl gekommen sind.“
          „Entweder wir, oder die Armenier.“ Enn drehte die Handfläche nach oben, während er über den Gang hinweg zu den braunhäutigen, dunkelhaarigen Männern nickte. Er strich seine Krawatte glatt und befasste sich mit ihrem Muster, ließ die Nationen an sich vorbeiziehen, applaudierte dann anerkennend.
          „Und aus der Estnischen Sowjetrepublik der Genosse Enn Trajman, Doktor der Chemie.“
Trajman – der seltsame Klang seines Namens erfasste Enn. Ein Augenschlag, der Bruchteil einer Sekunde.
          „Gratulation“, sagte der Kollege, doch der Glückwunsch streifte an Enn vorbei.
           Er stand auf, schritt wie auf weichem Moos über den Teppich zum Podium. Ihm kam es unwirklich vor, als Letzter unter den Augen des ganzen Saals nach vorne zu treten. Die altersbefleckten Finger des Professors hefteten ihm die Auszeichnung Verdienter Wissenschaftler ans Revers. Eine Studentin in schwarzem Kleid beeilte sich, ihm einen Blumenstrauß zu überreichen und ihm auswendig gelernte Glückwünsche ins Ohr zu säuseln. Enn stellte sich in die Reihe, schloss sie ab. Wieder erscholl die Musik. Ihre Feierlichkeit, die stehenden Ovationen und das Dröhnen aus dem Lautsprecher stiegen ihm ins Blut.

Draußen in der Winternacht glänzten die eisigen Sterne eines fremden Himmels. Der Koffer drückte die Überdecke aus rotem Steppstoff ein, als Enn die Urkunde auf seine Hemden und Hosen legte. Aus der dünnen Plastiktüte schimmerte die Schneekugel, die er seiner Tochter mitbrachte. In Gedanken war er bereits bei ihr. Sie würde sich über das Souvenir aus Moskau freuen, es vor ihre Bücher ins Regal stellen. Er betrachtete die Medaille, die an seinem Jackett heftete. Signe sollte sich freuen, Worte ihrer Anerkennung bedeuteten ihm mehr als der Empfang, den Jelizow für ihn in der Technischen Fachschule vorbereitete.
          Ema, ich liebe dich – das Dorf lag weit zurück, weit unter ihm das alte Leben. Im Spiegelschrank des Zimmers im Hotel Ukraina betrachtete Enn sich selbst. Die Medaille stand ihm, doch sie hatte ihren Preis. Dass er sie als Este verliehen bekommen hatte, als Letzter in der Rangordnung. Er spürte, dass ihn das Gremium aber nicht vergessen würde.

© Ira Ebner 2018

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