Neljas advent / Zum vierten Advent: Liebe und Traditionen - Eine Vorschau auf BuchZwei "Der Gesang der Freiheit"

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Meine Lieben, viele von Euch haben bereits #BuchEins gelesen und fragen sich, wie es mit Lagle weitergehen mag. In der Schlussszene mag ihre Zukunft ungewiss sein, doch alles, was sie ertragen hat, kann sie nur voranbringen. Nächstes Jahr erscheint die Fortsetzung "Der Gesang der Freiheit". Als kleines Weihnachtsgeschenk bekommt Ihr bereits eine Vorschau auf #BuchZwei.

Wie in Estland Weihnachten gefeiert wird, könnt Ihr in dem Schnipsel lesen. In #BuchZwei werdet Ihr immer mehr über Traditionen und Mythen im Norden erfahren. Nehmt ein Stück Marzipan (wenn nicht aus Tallinn :)) und ratet, wem Lagle ihr Herz schenken wird.



Tallinn, Dezember 1982

Das Läuten an der Tür kündigte Martin Kruusens Besuch an. Kalev verließ seinen Kreis aus Spielsachen, die er auf dem Wohnzimmerteppich ausgebreitet hatte und rannte Lagle hinterher. Sie drehte den Schlüssel zweimal um, betrachtete sich flüchtig im Spiegel.

Schwarz und schmal stand Lagle vor Martin. Ihre Haare hoben sich mit ihrem goldenen Ton erfrischend ab und machten ihr Gesicht sanft. Ihn anblickend schob sie verlegen einen Fuß vor. Kalev hing an ihrer Seite.

„Bitte, Martin“, bat sie ihn herein.

Er brachte eine Flasche Krimskoje mit, die bei den frostigen Nachttemperaturen in seinem Auto gut gekühlt war, und die Geschenke von seinem letzten Tagesaufenthalt in Finnland. Für Kalev einen dieser Kunststoffwürfel, die man so lange drehen musste, bis alle Seiten gleich aussahen. Sie ging voran ins Wohnzimmer. Eine kleine Fichte stand hinter dem zugezogenen Vorhang, Lametta und silberne Glaskugeln hingen an ihren Ästen. Lagle zündete ein Streichholz an, kleine Flammen stiegen von den Kerzen auf. Auf dem Tisch dampften die Blutwürste.
Martin setzte sich auf den Diwan, sein Blick schweifte von Ecke zu Ecke. Lagle merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel, nicht auf sie zu achten. Mit der Ärztin und ihm ist es längst vorbei, dachte sie, während sie ihm den Rücken zuwandte und mit zwei Gabeln eine Blutwurst auf den Teller legte. Wahrscheinlich, weil er sich nicht von Loviise scheiden lassen will?
Aus dem Augenwinkel bekam Lagle mit, dass er Arvos Foto in der Vitrine betrachtete. Eine Schwarzweißaufnahme, auf der er streng blickte, die ihn aber am besten traf.
„So kannte ich ihn“, sagte Martin leise, mehr an sich gewandt. „Meinen Freund aus einer Kindheit, die in den schmalen Gassen Tallinns stattgefunden hatte, die heiter und ausgelassen war, bevor jene Tage gekommen waren, als der Krieg tobte und der Marschschritt deutscher und russischer Soldaten von den grauen Mauern der alten Stadt gehallt war.“ Er strich über den Hinterkopf. „Von einem Tag auf den anderen bekam Arvo denselben ernsten Blick, den Kalev nun hat“, bemerkte er. „Er hat mich vorhin mit diesen großen blauen Augen angesehen, aus denen ein Ernst stach, der zu früh gekommen ist. Auch Arvo lächelte damals auf einmal anders, drehte sich mit dem Machorka-Tabak der Russen seine Zigaretten und sagte, nun würde er auf die Kadettenschule in Frunse gehen.“ Unter der Fichte spielte Kalev weiter, sah kurz auf, als sein Name fiel.
„Ja“, stimmte sie ihm zu, stellte sich den Moment vor. Mit dem vollen Teller in der Hand wandte sie sich um. „Weiß deine Frau, dass du hier bist?“
Martin öffnete die Flasche Krimskoje, füllte die Gläser, deren Schliff im Kerzenlicht funkelte.
Ihren Rücken angestrengt durchgedrückt und die Knie aneinandergepresst setzte sich Lagle aufs Sofa.
„Das geht sie nichts an“, antwortete er, stieß mit ihr an. Er schaufelte Graupen und Kraut mit den dunkelroten Stücken der Wurst auf die Gabel. Er leckte sich die Finger. „Wirklich köstlich.“
Sie lachte, weil sie wusste, dass das Essen zu seinen liebsten Beschäftigungen gehörte. Allmählich schlug es sich in seiner Leibesfülle nieder. Neben ihr strahlte Martin so glücklich wie ein kleiner Junge, nur dass sich inzwischen tiefe Furchen in seiner Stirn eingegraben hatten und sich graue Strähnen in sein dichtes dunkelblondes Haar einwebten. Von der Fotografie blickte Arvo sie an. Sie erinnerte sich an die verrückten Gefühle, die sie noch vor drei Jahren für Martin gehegt hatte. Sie hatte sie verdrängt, da sie nicht mehr bereit war, jemanden aussichtslos zu lieben. Wie stand es nun um ihn? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er nur unter dem Vorwand gekommen war, Kalev an Weihnachten zu besuchen.
Martins Gabel quietschte auf dem Porzellan. „Der Parteitag in Moskau wird dich ein wenig ablenken“, sagte er, reichte ihr den leeren Teller, damit sie noch einmal nachlegte. „Für dich wird es etwas ganz Neues sein. Der Kongresspalast ist groß und Moskau ein Moloch. Aber auch dort kannst du dich auf mich verlassen.“
Bemüht lächelnd stand sie vor ihm. Er nahm den Teller aus ihren Händen, machte dabei ein versonnenes Gesicht.
„Ich weiß, Martin“, sagte sie.
„Ich bewundere dich, dass du trotz allem weitermachst“, sagte er. „Wann fährst du zu deinen Eltern?“
„Morgen“, antwortete sie. Dieses Mal sank sie mit dem Rücken in die Sofalehne.
Er spülte die Gabel voll Graupen und Kraut mit einem kräftigen Schluck Krimskoje herunter, rutschte tiefer ins Sofa. Seine Arme hielten sich an der Lehne fest. Lagles Kopf war nur einen Handgriff entfernt. Sie richtete ihren Blick auf das verputzte Loch in der Decke, doch er schweifte weiter. Die Flammen der Kerzen flackerten, die Hitze wehte als warmer Hauch zu ihr herüber.
Laanejärv tauchte aus einer Winterlandschaft vor ihr auf. Aus den Kaminen der alten Holzhäuser stieg der Rauch in den Himmel, und eines war das Haus ihrer Eltern. Sie sehnte sich nach der Wärme, nach ihrer Mutter, doch dort war nie eine Wärme gewesen. Ihr Vater redete nur das Notwendigste. Vielleicht war es nur ein Wunschtraum, auf den sie sich freute.

„Danke für das gute Essen“, verabschiedete sich Martin.
          Lagle holte seinen Mantel von der Garderobe. Er nahm ihn, sah sie wortlos aus seinen schmalen blauen Augen an. Die Erinnerung an den Neujahrsabend drei Jahre zuvor kehrte zu ihr zurück, wiederholte sich wie hinter vom Frost angehauchten Glas. Martin nährte sich ihr, strich über ihre Wange, hob ihr Kinn. Dann zog er sie an sich heran, schlang seine Arme um sie. Warm und weich berührten seine Lippen ihre. Seine Zunge tastete sich in ihren Mund. Der Krimskoje ließ sie sich leicht fühlen, sie ging darauf ein. Sie griff in seine Haare, so wie sie es sich vorgestellt hatte, fühlten sie sich dicht und geschmeidig an. Für einen Augenblick entrückte die Gegenwart sie, verschmolz mit Fetzen ihrer Vergangenheit. Arvo, Alykul, Martin ... All die großen und heimlichen Gefühle verwirrten sie.
          Als sie die Augen aufschlug, Martin anblickte, seine Gesichtszüge studierte, stellte sie fest, dass diese Gefühle nichts anderes waren als ein längst verdampfter, konservierter süßer Duft. Wie letzte Tropfen in einem Parfümflakon, die begannen, nach scharfem Industriealkohol zu riechen. Nicht mehr wie früher, nicht mehr echt und rein.
          Sie löste sich von ihm, wandte sich zur Kommode um und nahm die Pelzmütze, die ihm gehörte. „Vergiss sie nicht, draußen ist es eiskalt“, sagte sie.
          „Das hätte ich bemerkt“, entgegnete er. „Lagle?“
          „Ja?“
          „Ich wollte dich schon längst küssen.“ Vor dem Spiegel setzte er sich die Mütze auf.
          „Warum hattest du es nie getan?“ Leise seufzend lehnte sie sich gegen die Wand, legte den Kopf zur Seite und sah ihn an. „Vor zwei, drei Jahren wärst du mir willkommen gewesen“, sagte sie. „Ich hoffe, du verstehst, dass ich dich auf eine andere Weise mag. Als Freund.“
          Martins Hand umschloss die Türklinke. Die klare Winternacht hauchte ihren eisigen Atem in den Flur, ließ Lagle erschaudern.
          „Was könnte ich dir jemals verübeln?“, fragte er, seine Verlegenheit überspielend. „Ich wünsche dir schon einmal ein gutes Neues Jahr. Ruf mich an, wenn du zurück bist. Wegen Moskau, meine ich.“
          Sie nickte, begleitete ihn über die Türschwelle. „Dir auch ein gutes Neues Jahr“, wünschte sie ihm.
          Diese Nacht war wirklich kalt, frostig flirrten die Sterne des Großen Wagens im Himmel. Lagle sah ihren Atem den Sternen entgegenziehen. Dann kehrte sie ins Haus zurück.

© Ira Ebner 2018

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