Esimene advent / Zum ersten Advent: Warten auf Mittwinter - Leseprobe "Unter dem roten Stern - Teil 1 der Himmel-Erde-Schnee-Saga"
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Der Advent ist die Zeit des Wartens und der Hoffnung auf die Rückkehr des Lichts. So zünden wir Sonntag für Sonntag die Kerzen an, denn um Mittwinter (21. Dezember), nach der längsten Nacht des Jahres, werden die Tage wieder länger. Für mich ist der Advent die Erwartung des Mittwinters, und so geht es mit dieser Leseprobe aus "Unter dem roten Stern" in Estlands verschneite Wälder und frostüberzogene Hochmoore.
Dezember
1971
Der
Winter zog ins Land und verwandelte die Wälder in eine weiße, weiche
Zauberwelt. Die Birken und die Tannen ächzten unter der dicken Schneedecke und
die vergessenen Beeren an den dürren Ästen der Ebereschen schaukelten im Wind.
Die Stille, die mit dem Winter einkehrte, war so wohltuend.
Der Wald war ein Irrgarten aus
Eis und Schnee. Der böige Wind deckte Lagles Fußspuren zu, die über den Pfad
zurückführten zum Bahnübergang. Damals im Sommer, an dieser Stelle – die
Erinnerung verklärte ihre Sicht wie die Schneeflocken, die sich in ihren
Wimpern verfingen. Unter ihren Füßen knirschte der eisverkrustete Schnee.
Aus den mit Eiskristallen
überzogenen Dornenranken stob eine Blaumeise auf. Lagle erschrak, doch als sie
sich wieder fasste, entkam ihr ein Lachen. So, als schlugen erneut Flügel auf
und ab, verwischte diese Erinnerung. Eine neue baute sich auf, nahm ihre Form
an. Arvo saß neben ihr im Jeep. Er lächelte sie an – und hielt ihr Lächeln, das
jetzt ihre Lippen umspielte. Millionen von Palmen, die stellte sie sich vor.
Der Gedanke an einen tiefblauen karibischen Himmel über einem warm brandenden
Meer ließ sie angenehm erschauern. Sie sog die kalte Luft ein und blickte in
die weißen Baumwipfel. In ihnen brachen sich die Strahlen der tiefer stehenden
Sonne. Ihre Vorstellung von Kuba löste sich auf.
„Wie ein Sonnenstrahl im Winter“,
flüsterte sie, als fürchtete sie, auch die Eiszapfen und die zarten Gebilde aus
Kristallen zum Bersten zu bringen.
Die
Dunkelheit senkte sich früh über ein blaues Land, und an den Tagen um Jõulud, dem Weihnachtsfest, das noch
geheimer war als Sankt Martin, wartete man auf die Rückkehr des Lichts. Mittwinter, wie Lagle diese besonderen
Dezembertage für sich nannte.
An der Fensterscheibe schimmerten
Eisblumen. Als sich Lagle mit ihrem Päevik
an den Tisch setzte, hielt sie inne, um ihr Funkeln im Licht der Lampe zu bewundern.
Die Gefühle, die sie niederschreiben wollte, verloren sich zunächst. Dann
festigte sich ihr Entschluss. Die Erinnerung an Jurij störte sie. Sie wollte
sie nicht länger aufleben lassen, denn sie gehörte nicht mehr zu ihr. Sie riss
die Seiten heraus, die seinen Namen trugen, zerriss das Papier und warf die
Fetzen ins Feuer ihres Ofens. Auf eine neue Seite schrieb sie:
Ich
hatte das perfekte, wunderschöne Bild eines Paares in einer Schneekugel.
Ähnlich wie die, die mein Vater einst aus Moskau mitgebracht hatte. Meine
Schneekugel stellte ich aufs Fensterbrett und betrachtete sie, verlor mich in
dem Glauben, was ich sah, sei wahr.
Doch der Wind drückte die Scheibe auf,
fegte die Schneekugel zu Boden. Das perfekte, wunderschöne Bild zerbrach in
1000 Splitter. Als ich es wegräumte, schnitt ich mich. Ich war traurig, dass
dieses Bild nicht mehr existierte. Ich warf die Scherben in den Müll.
Dann erschuf ich ein neues Bild, das
die Kälte, den Schnee und den grauen Himmel kannte. Es ist hässlich, aber wahr.
Heute erinnert es mich, dass das alte Bild nichts mit der Realität zu tun
hatte.
Ein rotes Funkeln lenkte Lagle ab. Sie
hob den Kopf, sah aus dem Fenster. Im Nachthimmel funkelte das Polarlicht wie
ein schöner, sich in seiner Farbenpracht entfaltender Schleier. Die Anmut
seiner Farben, von Rot zu Gelb, zu Grün und Violett, brachte sie erneut zum
Staunen. Jeden Winter wiederholte sich das Spiel im klaren Himmel, doch dieses
Mal erschien ihr das Polarlicht wie eine heimliche Botschaft: Lass deinen Kummer hinter dir, hör auf, die
Scherben zusammenzusammeln.
©
Ira Ebner 2018
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