"Lass dir nicht ins Herz schauen": Leseprobe "Unter dem roten Stern - Teil 1 der Himmel, Erde, Schnee - Saga"
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Laanejärv, Nordestland 1971
Schneeluft
lag in diesem Novembermorgen. Küllo und Lagle stiegen aus dem Auto, im Hof von Roter Oktober warteten Hendrik und Arvo
mit ihren Flinten.
„Wir nehmen den Jeep, damit
kommen wir besser über die Wege“, sagte Arvo. „Lasst den Schigulij stehen.“
Er war stolz darauf, dass er mit
dem Armeejeep von Tallinn nach Laanejärv gefahren war. Hinten saßen die beiden
Hunde. Als Lagle nach ihnen sah, sprangen sie auf und begrüßten sie bellend.
Arvo fuhr rasant über die gefrorenen Wege durch das Moor, das in der
tiefstehenden Morgensonne wie eine Welt aus Silber glänzte.
„Bleib hier stehen“, sagte
Hendrik zu ihm. „Das ist unser Jagdgebiet.“ Er nahm die vor Aufregung zitternden
Hunde an die Leine. Auf sein Kommando hielten sie still. „Ich schlage vor,
Lagle und Arvo sind die Treiber“, sagte er und vertraute Arvo die Hunde an. Zu
Lagle meinte er: „Du kennst dich ja gut aus.“
Sie nickte, warf die Flinte über
die Schulter und ging voran.
Arvo folgte ihr mit den Hunden,
die er sicher führte. „Sag mir nur, wo es langgeht, ich verlasse mich auf dich.“
Seine Stimme klang tief und angenehm. „Ich traue dir zu, dass du einen Elch aus
seinem Gebüsch treibst. Wenn du ihn nicht gleich schießt. Nun schau nicht so
traurig.“
Tatsächlich brachte er sie für
einen kurzen Augenblick zum Lachen. Er schien es ihr vorzumachen, damit sie sich
daran erinnerte, wie es war. Er hatte ein schönes Lächeln, die Sprenkel in
seinen Augen strahlten besonders. Er gehörte nicht zu den Menschen, die nach
Außen Heiterkeit vorgeben mussten. Manchmal blickte er ernst und streng,
besonders wenn ihn etwas zu beschäftigten schien. Ernsthafte Würde – diese Beschreibung erfand sie in diesem Moment
für ihn.
„Du bist noch jung, und vor allem
bist du sehr hübsch“, fuhr er fort. „Versteh das nicht falsch. Du wirst dem
Richtigen noch begegnen.“
Lagle schob ihre Uschanka in den
Nacken, weil ihr beim Gehen plötzlich zu warm wurde. Er ließ die Hunde von der
Leine. Sie stürzten sich ins Dickicht, scheinbar hatten sie eine Fährte
aufgenommen. Lagle gab Küllo und Hendrik ein Handzeichen, die in Sichtweite auf
der Lichtung standen. Ruhig und hochkonzentriert legte sie die Flinte an.
„Das sagst du“, entgegnete sie
leise. „Wie alt bist du, Arvo? Vierzig? Und warum hast du so lange nach der
Richtigen gesucht? Muss ich so alt werden wie du? Oder wurdest du einmal zu
sehr verletzt?“
Als er sein Gewehr spannte,
richtete sich sein Blick auf das von der frostigen Silberschicht überzogene
Moos.
„Ich habe sie in der Tat
verloren“, antwortete er. „Du stellst sehr viele Fragen auf einmal. Sie
sprudeln aus dir heraus wie das Wasser aus einer offenen Leitung.“ Er sah sie mit Augen von der gleichen Farbe des
Himmels an. „Wenn du es wissen willst, die Frau, die ich vor langer Zeit
heiraten wollte, ist bei einem Unfall gestorben. Sie war genauso jung wie du.“
Ein tonloses Lachen entfuhr ihm, verwandelte sich in eine kleine Wolke. „Jahre
mussten vergehen, damit ich Sigrun begegne.“
„Ich wollte keine unverschämten
Fragen stellen“, entschuldigte sie sich, ohne ihr Ziel zu verlieren. „Es tut
mir leid. Manchmal benehme ich mich wirklich wie ein Trampel.“
„Du konntest es nicht wissen“,
sagte er. „Und außerdem habe ich mich bei unserer ersten Begegnung dir
gegenüber nicht benommen.“
„So schlimm war es nicht“, flüsterte
sie.
Rascheln im Gebüsch, die Hunde
bellten. Über das Dickicht von Ranken und Beerenbüschen sprang ein Bock. Lagle
bewegte das Gewehr, schoss, Arvo schoss. Von der Lichtung hallte ein weiterer
Schuss. Der Bock sank ins Moos.
Anerkennend umfasste Arvo ihre
Schultern. Sie teilte den Stolz und die Freude mit ihm. Der Wodka ging auf die
erfolgreiche Jagd herum, für jeden ein Schluck aus der Flasche.
„Wenn dir kalt ist, setz dich in
den Jeep“, bot Arvo Lagle an.
„Wir schaffen den Bock schon“,
sagte Hendrik zu ihm.
Arvo setzte sich auf den
Fahrersitz, neben sie. „Lass uns rauchen“, sagte er, klappte das Zigarettenetui
auf.
Sie nahm sich eine. Die
Vorurteile, die sie seit der ersten Begegnung über ihn hatte, überstanden
diesen Vormittag nicht mehr.
Er gab ihr Feuer. „Weißt du, was
sich hier versteckt hat?“ Er drehte am hölzernen Knauf der Handbremse und zog
ein Bajonett heraus, etwa einen halben Meter lang. „Nur für den Fall, dass uns
der Feind überrascht“, erklärte er ihr und steckte die Stichwaffe zurück.
„Keine Sorge, Lagle. Ich war bereits vor zehn Jahren auf Kuba.“
„Was macht man auf Kuba?“, fragte
sie.
„Die Außengrenze des
sozialistischen Lagers verteidigen“, antwortete er. „Ich habe kubanische
Offiziere ausgebildet, als die Raketen stationiert werden sollten.“
„Das hört sich aufregend an“,
sagte sie. „Sprichst du Spanisch?“
„Was man eben so lernt“, sagte
er. „Aber die Raketen kamen nie auf Kuba an. Du weißt, wenn unsere Seite nicht
eingelenkt hätte, wären wir alle nicht mehr hier.“ Er sog an der Zigarette,
kniff nachdenklich die Augen zusammen. „Der Jeep dort hatte auch ein Bajonett.
Eben nur für den Fall, dass sie gekommen wären, die Amis. Oder ihre Söldner,
Exilkubaner. Doch davon erzähle ich dir ein anderes Mal. Ich will dich nicht
mit meinen Geschichten nerven.“
„Das tust du nicht.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich. Was gibt es auf
Kuba? Palmen?“
„Millionen von Palmen.“ Er
grinste, als würde er sich an einem der Strände wiederfinden, die er gesehen
hatte. Anstelle im estnischen Spätherbst. „Und Schnecken, wie du sie hier nie
gesehen hast. In allen Farben. Kuba war das Paradies. Kein Winter, und am
Neujahrstag lag ich am Strand.“
„Unseren Winter würde ich nicht
missen wollen“, sagte sie.
Er überlegte, kurbelte das
Fenster herunter. „Ich auch nicht. Eiskristalle sind etwas Schönes, kubanische
Schnecken hin oder her.“ Mit einem Fingerschnipp beförderte er die Kippe nach
draußen. „Lagle, du bist wirklich sehr neugierig. Und klug.“
Frostig
und klar spannte sich der Nachthimmel über Laanejärv. Die Kamine hauchten ihren
Atem den flimmernden Sternen entgegen. Im Hausflur stellte Lagle den Korb mit
den Bierbüchsen ab, holte ihr rotes, mit Blumen bedrucktes Wolltuch von der
Garderobe und warf es sich über. Sie stieg in die Gummistiefel ihrer Mutter und
ging hinaus. Klirrend kalte Luft schlug ihr auf dem Weg zum Saunahaus entgegen.
In den Fenstern brannte warmes gelbes Licht. Hier blieben die Männer nach der
Jagd unter sich.
Im Vorraum legte Lagle ein paar
Holzscheite im Ofen nach. Sie stocherte in den Glutnestern. Mein Vater und Onkel Hendrik erzählen einander
von den Schlachten und den Scharmützeln vergangener Tage. Nicht einmal in ihren
Träumen lassen sie sie noch los. Gelb und rot züngelnd umfassten die
Flammen das Holz. Die Tür schluckte die Stimmen der Männer, neugierig lauschte
sie den Geschichten, die sie bereits kannte.
„Jetzt erzähle ich euch was!“ Arvo.
Ihre Sinne schärften sich. „Mein Vater ist als Staatsfeind ins Lager gekommen.
Die Russen haben mich umerzogen.“ Sein Lachen kam mit beißendem Spott aus
seiner Kehle. „Aber ihr verratet mich nicht.“ Das Feuer sang, knisterte. „So
sehr konnten sie mich nicht umerziehen, als dass ich vergessen hätte, wer und
was ich bin. Und was meinen Vater betrifft, er hat nichts verbrochen. Sein
Verbrechen war es, Este zu sein. Ganz einfach.“
Warum
erzählst du nicht weiter von Kuba? Warum diese hässlichen, traurigen
Geschichten? Viel lieber würde ich von deinen Palmenstränden hören und mir
vorstellen, wie es dort ist ...
Die Türklinke bewegte sich. Arvo
betrat den Vorraum. Genauso verlegen und überrascht sah er auf Lagle. Sie senkte
den Blick, wie es sich gehörte. Schnell schlang er ein Handtuch um seine
Hüften. Dann setzte er ein Grinsen auf, beugte sich zu dem Korb neben der Tür
und nahm eine Büchse heraus. „Du hast das Bier gebracht?“, fragte er. „Ich muss
mal an die Luft. Du kannst mich übrigens wieder ansehen.“
Auffordernd öffnete er die Tür. Sie
folgte ihm in die Kälte. Er setzte sich auf die Bank vor dem Saunahaus. Zögernd
nahm sie neben ihm Platz. Seine Haare waren nass, Schweißperlen verfingen sich
in seinen Brusthaaren. Wie eine Aureole stieg die Hitze aus seinem Körper der
Nacht entgegen.
„Behalt bitte für dich, was du von
unseren Gesprächen mitbekommen hast“, sagte er, drückte die Blechmembrane der
Dose ein.
„Verlass dich auf mich.“
„Vertrauen kann man dir also auch.“
Er reichte ihr die Büchse. „Hier, nimm einen Schluck. Ich habe noch nicht
angetrunken.“
Lagle trank ein wenig Bier, gab es
ihm zurück. Das Bier kühlt sein loderndes
Herz und seinen erhitzten Kopf ab. Sie betrachtete ihn von der Seite,
beobachtete, wie sich seine Brust senkte und wieder hob, sich sein Bauch
anspannte und wieder entspannte. Mit dem Handrücken wischte er über die Lippen,
blickte in den Himmel, sah dann zu ihr.
„Doch, du bist ein ehrlicher Mensch“,
sagte er. „Das habe ich heute Nachmittag erkannt. In dieser Welt findet man
selten anständige Menschen. Darum gebe ich dir einen Rat: Lass dir nicht ins
Herz schauen. Vielleicht von denen, die dir am nächsten stehen. Ansonsten von
niemandem.“
Im Lampenlicht, das durch die
Fenster sickerte, sah sie das Eis in seinen Augen schimmern. Langsam erhob sie
sich, wickelte das Wolltuch enger um ihre Schultern. Seine Worte klangen nach,
berührten dieses Herz, das sie undurchsichtig machen sollte. Sie nickte und
sagte ihm mit einem schmalen Lächeln, dass sie ihn verstanden hatte. „Gute
Nacht, Arvo“, wünschte sie ihm.
„Gute Nacht“, erwiderte er. „Und
danke für das Bier.“
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© Ira
Ebner 2018
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