Schreibtagebuch Himmel, Erde, Schnee RELOADED #4: Finnischer Wald

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Hauptschauplatz beider "Himmel, Erde, Schnee"-Teile ist Estland mit seinen außergewöhnlichen Kulissen, in BuchEins führt die Reise weiter nach Kirgisien und nach Finnland. Dort setzt sich die Handlung von Lagles Antagonistin Sigrun fort. Ich dachte bei diesen Temperaturen an einen erfrischenden nordischen See, wie in dieser Leseprobe. Achtung, Spolier.


Ein Aquarell meiner Tochter, das mich an den See in Finnland erinnert


Lahti, Finnland, Sommer 1974
Maschinenlärm und der harzige Geruch zerschnittenen Holzes umgab Sigrun, als ihr Jarmo sein Sägewerk zeigte. Es war größer, beschäftigte mehr Arbeiter als das auf Roter Oktober. Die Arbeiter waren schneller. Am Ende der Halle luden sie Bretter in allen Größen auf Gabelstapler.
            „Das Holz stammt aus meinen Wäldern“, erklärte ihr Jarmo über das Kreischen der Sägeblätter hinweg. „Da wird nichts hinzugekauft, was bedeutet, ich muss meinen Gewinn nicht mit den Zulieferern teilen. Ich werde dir einmal erklären, wie das funktioniert.“ Sachte umfasste er Sigruns Hüfte, führte sie hinaus ins Freie.
            „Ja“, antwortete sie. Vom Lärm hörte sie nur noch ein helles, gleichtöniges Surren. „Das wirst du mir noch erklären.“
            In den Hof fuhr ein Lastwagen ein, beide Anhänger mit unzähligen Baumstämmen beladen. Neugierig beobachtete Sigrun, wie eine große Zange von oben herabschwebte und bündelweise die Stämme griff. Sie blickte hinauf. Im Führerhaus eines Krans bediente ein Arbeiter die Hebel. „So wie hier läuft es bei uns nicht“, bemerkte sie.
            Auf Jarmos Lippen bemerkte sie ein geschmeicheltes Lächeln. Er führte sie weiter, durchquerte mit ihr den Hof, wo sein Auto stand. „Heute habe ich dir mein Hauptwerk und den Sitz meiner Firma gezeigt“, sagte er. „Weißt du, warum ich das mache?“ Er startete den Wagen.
            Während der schwarze Volvo langsam auf das Tor zurollte, entstand eine schwere Pause. Sigrun stützte den Ellenbogen am Fenster auf, musterte den Ausdruck seiner Augen, die Regung jedes Muskels. Der Pförtner öffnete die Schranke, Jarmo erwiderte seinen Gruß mit erhobener Hand.
            „Nein“, sagte Sigrun, da seine Antwort ausblieb.
            „Du musst am Montag nicht auf die Fähre steigen“, sagte er. „Du kannst bleiben, musst aber nicht. Denn ich werde dich nicht hier festhalten.“
            Wort für Wort sickerte in ihr Bewusstsein, setzte sich. Ihr stiller Wunsch, nie mehr nach Estland zurückzukehren, schien wahr zu werden. Sie unterdrückte ihr Lachen, bevor es zu laut und zu verräterisch aus ihr herausbrach. „Meinst du das ernst, Jarmo?“
            Die Straße führte schnurgerade aus dem Industriegebiet in einen Wald.
            „Hmhm“, nickte er, sah sie herausfordernd an. „Ich will dich an meiner Seite haben, als Partnerin. Du lernst sehr schnell, was immer man dir beibringt. Und als Frau.“
            „Was sagt deine Frau dazu?“
            „Meine Frau?“ Jarmo lachte schallend auf, warf den Kopf in den Nacken. „Nichts, denn ich bin geschieden.“
            Du bist ganz nach meinem Geschmack. Sigrun fiel in sein Lachen mit ein. Wir sind einander so gleich – du weißt es nur nicht! Die Vorstellung, so zu enden wie die Landsfrau und putzen zu gehen, schob sie weit von sich. Nicht sie, nicht Sigrun Väljamäe.
            An ihrem Fenster lichtete sich der Wald, tauchte eine Siedlung aus Holzhäusern auf. Sie unterschieden sich wenig von denen in Estland, außer, dass ihre Farben satter und neuer waren. Eine Birke trug an einem Ast bereits gelbes Laub, früher und viel mehr davon als in Estland zur gleichen Zeit. Hinter den Gärten mit ihren weißlackierten Zäunen und akribisch gestutzten Rasenflächen schimmerte ein See. An einem trüben Tag wie diesem wirkte er blaugrau.
            „Wenn du mich bittest, bleibe ich“, sagte Sigrun, ohne den Blick vom See abzuwenden. „Drüben hält mich nichts mehr. Ich habe zwar noch meine Eltern und meinen Bruder in Estland, aber sie werden damit leben müssen. Mein Vater ...“ Ihr entkam ein verächtliches Lachen. „Er ist Kommunist. Meine Entscheidung wird ihn nicht erfreuen.“
            „Auf ihn musst du keine Rücksicht nehmen, denn es ist deine Entscheidung.“
            „Genau!“ Hinter der nächsten Kurve offenbarte der See sein wahres Ausmaß. „Sag einmal, wie groß ist denn dieser See? Er reicht bis zum Himmel.“
            „Könnte man meinen. Es gibt Tausende von Seen, die bis zum Himmel reichen.“ Jarmo bog ab, fuhr einen Abhang hinunter auf die Uferstraße. „Hinter dem Wald hier kommt es. Mein Haus.“

Sigrun stand an der Glasfront, die den See und den Wald im Morgendunst ins Schlafzimmer einlud. Die Gewissheit, dieses moderne Haus aus Holz und Glas würde auch ihres sein, stimmte sie zufrieden und glücklich. Sie beobachtete, wie die Sonne sich aus dem Dunst erhob und den Himmel für sich einnahm. Ihre Strahlen legten in der Mitte des Sees einen mit Fichten und Birken bewachsenen Felsen frei. Am Ufer schaukelte ein weißes Motorboot. Auch dieses sollte ihres werden. Wie ein Versprechen zeigte sich der Himmel über den Dunstfetzen in tiefem Blau.
            Aus dem Badezimmer vernahm sie das Prasseln der Dusche, bis es verstummte. Jarmo kam zu ihr, wickelte das Handtuch um die Hüften.
            „Erst heute sehe ich die ganze Aussicht“, sagte sie.
            Er stand hinter ihr, umfasste sie, schob sich an sie. „Siehst du den Felsen?“, fragte er. Sein Atem berührte ihren Hals, durchdrang sie bis unter die Haut. „Das ist der Vorsprung einer Insel. Auch die gehört mir.“
            Seine Hände wanderten tiefer, er zog ihr Nachthemd über ihre Hüften, ihre Brust hinauf. Sie streifte die Träger von ihren Schultern. „Gibt es etwas, was dir nicht gehört?“
            Ihre Küsse nahmen ihm die Luft zu sprechen. Das Handtuch fiel zu Boden. Er hielt inne, sagte: „Mir gehört nur dieser kleine Teil der Welt. Und der ist genug. Für uns beide.“
            Sigrun lehnte an der Scheibe. Wie der Atem des Sees zogen letzte Dunstschleier empor. Gleißend lag die Oberfläche vor ihr, die um den Felsen herum dem Horizont entgegenfloss.

© Ira Ebner 2018

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