Wer noch nicht in den Urlaub gefahren ist, den will ich heute auf die erste Station einer Reise der besonderen Art schicken. Auf in den Norden, der Mitternachtssonne entgegen. Es ist Mittsommer 1938, und wie in allen nordischen Ländern wird auch in Estland die längste Nacht des Jahres mit einem Feuer und einem Fest gefeiert. Damit beginnt eine besondere Geschichte zweier Menschen, denen noch vieles bevorsteht ...
„Da ist er ja, unser Gero!“, rief eine Männerstimme.
Fee wandte sich um. Ihr Bruder schob sich an den Rücken der auf den Bierbänken Sitzenden vorbei und begrüßte zwei Kommilitonen. Einer von ihnen trug die Kappe der Verbindung schräg, und ein ausrasierter Nacken zeigte sich. Sie klopften einander auf die Schultern.
„Überraschung, Überraschung!“, dröhnte angeheitert und aufgekratzt die junge Stimme des anderen.
„Wir waren auf dem Weg nach Pernau, und haben gehört, dass hier gefeiert wird“, erklärte der erste. „Und dachten, wir würden dich hier treffen.“
„Mensch, Alfred, Siegfried!“, entgegnete Gero erfreut.
Seinen Gesten nach zu schließen, sprach er von Fee und suchte sie. Doch sie lehnte sich auf die Tischplatte und verbarg sich hinter Kalju.
„Was ist?“, fragte er.
„Die komischen Freunde meines Bruders sind da“, flüsterte sie auf Estnisch. „Ich habe keine Lust, mit ihnen zu reden.“
„Wieso komisch?“, entgegnete er und sah zu der Gruppe der drei jungen Männer, die zu ihren starken Worten gestikulierten. „Sie sind sehr laut.“
„Das sind Braune, wenn du verstehst, was ich meine“, antwortete sie und senkte die Lider. „Kalju, mir ist das so peinlich.“
„Ich weiß, dass du anders denkst als dein Bruder“, sagte er. „Du brauchst dich nicht schämen.“
Er nickte stumm und dachte an seinen Bruder Toomas. Aber er ließ sich von seiner düsteren Vorahnung nichts anmerken. Stattdessen hoffte er, dass sie sich nicht bewahrheitete. Er stand auf, ging um den Tisch herum und reichte ihr die Hand.
„Darf ich dich zum Tanzen auffordern?“, fragte er und deutete eine Verbeugung an. „So gehört es sich doch, nicht wahr?“
Sie umfasste seine Hände und ließ sich von ihm hochziehen. Arm in Arm eilten sie zur Tanzfläche, sie flog fast die Stufen hinauf. Um sie herum drehten sich Paare zum Klang von Akkordeon, Fiedel und Laute. Fee schätzte die junge Frau neben sich ab, deren goldene Zöpfe flogen, als sie sich drehte. Die Absätze ihrer Schuhe klapperten auf den Bohlen. Sie stampfte und stemmte die eine Hand in die Seite, während die andere den Saum des Rockes hielt.
„Ich glaube nicht, dass ich das auch kann“, sagte Fee. Kalju umfasste leicht ihre Hüfte und nahm ihre linke Hand.
„Tanz einfach mit mir“, sagte er.
Er drehte sie leicht, wie bei einem Walzer, und sie ließ sich von ihm führen. Sie sah zu ihm auf, er lächelte zu ihr herab. Einen Moment schweifte sein Blick ab und suchte Toomas. Er stand, mit dem Bierkrug in der Hand neben dem Mädchen mit dem Blumenkranz auf der Zopfkrone. Vertraulich beugte er sich zu ihrem Ohr und flüsterte ihr etwas zu. Das Mädchen kicherte, doch die Musik übertönte es. Kalju widmete sich wieder Fee. Sie gab in seiner Umarmung nach und fast schwebend berührten ihre Schritte den Boden. Um sie herum verschwamm das Feuer, das tiefe Grün des Waldes, das durchscheinende Blau des Himmels, und die Musik verklang, obwohl die Kapelle lebhaft spielte. Sie schob sich an seine Brust, ihre Wange berührte den Stoff seiner Jacke. Sanft umfuhr sein Daumen die Senke ihres Rückens und ein warmer Schauer durchfuhr sie. Sein Kinn lag auf ihrem Haar, sie spürte seinen Atem auf der Stirn. Das Verlangen, ihn jetzt zu küssen, nahm Besitz von ihr, und ob es ihm genauso ging?
Doch die Stimme ihres Verstands rief sie zurück, nicht hier. Er löste seine Hand aus ihrer, um ihr Gesicht zu streicheln, und schüchtern zog er sie wieder fort. Der Fiedelspieler beendete das Stück mit einem Strich, dann gab er den Takt vor, üks, kaks, und gab eine getragenere Melodie vor. In Kaljus Augen spiegelte sich die nordische Sommernacht. Seine Lippen berührten die Welle ihrer Haare, und er zog sie näher an sich heran. Langsam drehte sie sich mit ihm. Ihre Fingerspitzen strichen über seinen Nacken. Sie legte die Hand wieder auf seine Schulter. Sein Arm drückte sie fester an sich. Knackend fiel ein starker Ast im Feuer zusammen.
Ein Funkenregen rieselte hinab und verglomm, bevor er auf das kühl ausatmende Gras fiel. Als auch dieses Stück verhallte, fragte er: „Willst du noch weiter tanzen?“
Sie las von seinen Augen ab, dass er einen anderen Vorschlag von ihr erwartete und sie schüttelte den Kopf. Hand in Hand stiegen sie die Stufen hinab. Zurück am Tisch, nahm sie einen großen Schluck gegen den Durst aus ihrem Krug.
„Wir können ein Stück Richtung Wald gehen und uns ein wenig unterhalten“, schlug er vor.
Sie war damit einverstanden und drängte sich hinter ihm auf die Gasse zwischen den Tischen. Toomas führte beim Feuer eine Unterhaltung mit dem Mann, den er vorhin begrüßt hatte. Sein Mädchen stand zwar an seiner Seite, aber sie beobachtete gelangweilt das Flackern des Feuers. Die Blumen auf ihren Zöpfen welkten bereits vor sich hin.
„Kalju, wohin willst du?“, rief er belustigt seinem Bruder zu. „Willst du mit deiner Begleiterin nicht beim Feuer bleiben? Später springen wir alle gemeinsam darüber.“
„Später“, antwortete Kalju. „Fee und ich gehen ein wenig spazieren.“
„Verstehe, ihr wollt die Farnblüte suchen“, lachte Toomas, und seine Freunde fielen in das Lachen mit ein. Kalju gab ihm einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen und entgegnete: „Wenn wir sie gefunden haben, werden wir sie euch bringen.“
„Rede nicht lange herum, sondern geh endlich“, sagte Toomas. „Bevor sie noch verblüht.“
Kaljus und Fees ganze Geschichte lest ihr in Schwalben.
Kaljus und Fees ganze Geschichte lest ihr in Schwalben.
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