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Wer wird der würdige "Schwalben"-Nachfolger, den ich beiläufig angekündigt hatte? Voraussichtlich im Herbst 2018 wird die komplett überarbeitete Neufassung von "Himmel, Erde, Schnee" erscheinen, gerade noch rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Republik Estland.
Um euch die Wartezeit erträglicher zu machen, gibt es als Weihnachtsgeschenk dieses Spin-Off, das allerdings in Teil 2 "Der Gesang der Freiheit" gehört und 1987 angesiedelt ist.
Dystopisch und düster wirkt Teil 1 "Unter dem roten Stern", in dem die Hauptfiguren Lagle, Sigrun, Arvo und Enn ihre Rollen in einem totalitären Staat spielen und mitunter widerwillig erfüllen. Dennoch glimmt trotz des emotionalen Finales ein kleiner Funken der Hoffnung. Teil 2 fällt in Zeiten großer Veränderungen, in die Ära Gorbatschow. Glasnost und Perestrojka gewähren den Menschen Meinungsfreiheit, was das Streben der Litauer, Letten und Esten nach Unabhängigkeit bestärkt.
Die Angst vor dieser Option und ihrem Machtverlust sitzt bei den Parteioberen tief. Sie suchen nach Verbündeten, wie beim Hochschulrektor Enn Treimann ...
Achtung: Historische Fiktion, wie der gesamte Roman auch.
Tallinn, Estnische SSR1, Dezember 1987
Feine Schneeflocken prasselten gegen die Fensterscheibe, der
Nordostwind seufzte um die Fassade der Technischen Fachschule. Rektor Enn Treimann
saß unter Gorbatschows unretuschiertem Porträt an seinem Schreibtisch,
arbeitete zwischen seinen Vorlesungen die Postmappe durch.
Jemand klopfte an. Er
sah auf. Linda Rand, seine Sekretärin, wirkte aufgeregt, aus ihrem schmalen
Gesicht war jede Farbe verschwunden. „Genosse Direktor, jemand möchte Sie
dringend sprechen“, sagte sie kurzatmig.
„Wer?“ Ohne den Füller
aus der Hand zu legen blickte er zu ihr auf.
Die beiden Männer
hinter den Schultern der hochgewachsenen Frau erklärten ihm die Dringlichkeit.
Einer von ihnen trug einen dunklen Mantel, der andere eine Lederjacke. Ohne
abzuwarten, dass Enn sie hereinbat, schoben sie sich an Linda vorbei. Lautlos
glitt die Tür ins den Rahmen. Aha, die
Freunde von der Tscheka2 wieder, wurde ihm sofort klar. Er stand
auf, schloss seine taillierte Anzugjacke. „Genossen, Sie wünschen?“
Kurat! Zum Teufel, was wollen sie jetzt wieder von mir? Unbehagen
breitete sich in Enn aus. Als Naturwissenschaftler verfügte er über einen
klaren, aufgeräumten Verstand, der schnell eine Situation einzuschätzen wusste.
Gekonnt wie immer überspielte er seine Emotionen, doch würden seine
saphirblauen Augen verraten, was er dachte?
Unaufgefordert nahmen
der Mantelträger und der Lederjackenträger vor seinem Schreibtisch Platz. „Unser
Land befindet sich in Unruhe“, begann der Mantelträger. „Nationalistische
Umtriebe gefährden die innere Sicherheit. Darum sollten auch Sie aufmerksam
sein, was an Ihrer Schule vorgeht und worüber Ihre Studenten diskutieren.“
„Ich dachte, die Zeiten
seien vorbei, in denen Menschen für ihre freie Meinungsäußerung eingesperrt werden“,
sagte Enn.
„Niemand hat vor,
Andersdenkende einzusperren“, beschwichtigte der Lederjackenträger.
Der Mantelträger zog
ein Formular hervor, reichte es über den Schreibtisch. „Sie sollen uns nur Ihre
Unterschrift geben.“
Maßnahmen zur Befugnis für die Sanktionierung nationalistischer
Gefährder, las Enn die Überschrift. Herausfordernd ließ er das Papier aus
seinen Fingern gleiten. Es landete auf der Unterlage. „Wer sind diese
Gefährder?“, fragte er. „Freidenkende Menschen? Menschen wie ich, die
öffentliche Ämter innehaben und die Umsetzung der Perestrojka unterstützen? Nein, Genossen, ich unterschreibe Ihnen
nichts, was der Moskauer Parteilinie widerspricht.“
Blicke wie offenes
Feuer zielten zwischen Schreibtisch und Stühlen aufeinander. Enn spürte, wie
sich seine Muskeln anspannten, die gemeine, heimliche Angst der Vergangenheit
in ihm aufschlug. Hatte er seine Grenze überschritten? Jede Gunst findet irgendwann ihr Ende, erinnerte er sich an die
Warnung seiner Frau. Das Zittern in sich niederringend erhob er sich, gab dem
Mantelträger das Formular zurück. Worte ließen sich nicht mehr zurücknehmen,
seine Haltung ließ sich nicht mehr ändern. Er stand hinter seinen Studenten und
Kollegen, wie auch immer sie dachten. Und die Mehrheit dachte, dass Estlands
Belange über denen der Zentralregierung stehen sollten.
„Genossen, richten Sie
Ihren Vorgesetzten aus, dass ich meine Schule unter Kontrolle habe“, sagte er,
wies zur Tür. „Wenn Sie gehen möchten? Ich habe zu tun.“
Die beiden Tschekisten sahen einander an. „In
Ordnung, wie Sie meinen, Genosse Direktor“, sagte der Mantelträger. „Wenn Sie
die Kontrolle verlieren, behaupten Sie nicht, Sie seien nicht gewarnt worden.“
Jedes weitere Widerwort
behielt Enn für sich, er richtete den Kragen seines Jacketts, warf den Tschekisten finstere Blicke hinterher.
Er lauschte dem Schlagen der Türen, mit dem sie verschwanden. Mit einem tiefen
Atemzug stieß er die nachlassende Anspannung von sich, fasste wieder klare
Gedanken. Noch immer stehend zog er das Tagebuch3 zu sich, schlug es
auf und sah nach, was sein Stundenplan vorsah. Die nächste Vorlesung
Analytische Chemie für seine Erstsemester.
„Die beiden Freunde von
der Tscheka wollten, dass ich auf
nationalistische Umtriebe achtgebe“, erklärte Enn seiner Sekretärin. Sichtlich
angespannt hatte sich Linda hinter ihrem Schreibtisch verschanzt. „Was
Nationalismus auch immer bedeuten mag.“ Er schritt an ihr und der Garderobe
vorbei. Sein Mantel und die Uschanka4
aus Graufuchsfell hingen dort.
Im Vorbereitungsraum hielt sich hartnäckig der Geruch von kaltem
Rauch. Der Kollege Veering hatte sich wohl wieder einmal eine Zigarette
zwischendurch gegönnt, die Angewohnheiten der Dozenten kannte Enn. Er streifte
den Laborkittel über, stellte aus dem Stahlschrank die Reagenzmittel und
Lösungen zusammen. Roter Phosphor,
das bräunliche Glas stand verlockend auf Augenhöhe. Zugegeben, Effekte mit Rotem
Phosphor versetzten Schüler in Staunen, hatten sie etwas von Alchemie und
Zauberei, doch der heutige Tag verdiente das. So wie es die Atmosphäre dieser
Tage verdiente.
In den Reihen des Hörsaals saßen die Studenten
mit ernsten Gesichtern. Ein Flüstern wogte zu Enn, der hinter dem Pult stand
und seine Versuchsanordnung prüfend betrachtete. Er hatte einen Bunsenbrenner und einen Standkolben
aufgebaut, dazu ein paar Schalen, Becher, Indikatorlösung und einen
Verbrennungslöffel. Und die Gasflasche mit dem Sauerstoff. Heute
werde ich sie überraschen. Die Nummer mit dem Roten Phosphor ist zwar was für
Achtklässler, aber sie weckt den gesamten Kurs auf. Nur mit Mühe gelang es ihm, sein Grinsen zu verbergen,
während er mit dem Spatel das Pulver aus dem Glas nahm. Aus dem Augenwinkel
beobachtete er seine Studenten. Da waren die Ruhigen, die fleißig mitnotierten
und gute Noten schrieben; dort die Wissbegierigen, die ihn mit ihren Fragen und
Lösungsansätzen forderten. Und dann gab es noch die andere Sorte, die Karrierestreber mit den Leninfähnchen des Komsomol5 an ihren Hemden und
Strickjäckchen. Letztere drehten auch ihre Fähnchen nach
dem Wind, um später in allen Institutionen hochzukommen, ohne die Lehre jemals
verinnerlicht zu haben. Obwohl Enn in seiner Jugend dem Komsomol beigetreten war, in der Lehre hatte er einen Sinn
entdeckt, und zwar die Gerechtigkeit. Ihm war klar, dass er heute nicht
hierstehen würde, wenn ihm die Partei nie das Versprechen auf eine Zukunft in
der Wissenschaft gegeben hätte. Sein Vater war der Bastard eines deutschen
Barons, hatte sein Feld bestellt und nicht viel mehr gehabt, als was die Ernte
hergab. Enn wäre kaum etwas anderes geworden als ein armer Bauer.
Und doch schwelte etwas
in ihm, der Grund, warum er weder die Karrierestreber, noch die Tschekisten
leiden konnte. Langsam drehte er die Flamme des Bunsenbrenners auf. Sie
flackerte, stieg empor. Ein unterdrücktes, und doch über die Jahre und
Jahrzehnte seines Lebens Schwelen setzte sich immer mehr frei. Er war Este, und
hatte die Unterdrückung und den Alltagsrassismus der Russen vom ersten Tag an
kennengelernt. Erhobenen Hauptes war er auf seinem Weg vorangeschritten, hatte
sie ausgetrickst, sich ihren Regeln widersetzt, wo immer er konnte. Nichts
hatte er sich mehr von ihnen nehmen lassen, im Gegenteil, mit der Perestrojka gaben sie ihm etwas.
„Zu Beginn der heutigen
Vorlesung führe ich Ihnen einen Versuch vor, den Sie aus Ihrer Schulzeit kennen“,
wandte sich Enn an seinen Kurs.
Er deckte den Kolben mit der Petrischale
ab, drehte den Brenner auf, fackelte den Spatel ab. Eine orangene Flamme schlug
hoch. Der Phosphor brannte, erstaunt
wie die Kinder rissen die Studenten die Augen auf. In Enns Erinnerung brannte
das Feuer im Saunaofen zuhause auf Saaremaa.
„Die Deutschen befinden sich weiter auf dem Rückzug, haben Estland
aufgegeben.“ Der Vater sprach in ernstem, besorgtem Ton, während er ein
weiteres Holzscheit in die züngelnden Flammen legte.
Draußen
spannte sich eine der letzten lauen Sommernächte mit ihren Millionen von
funkelnden Sternen über die Reetdächer und die Wipfel der Kiefern. Auf dem
Festland tobten währenddessen blutige Schlachten zwischen der Roten Armee und
der Wehrmacht, die letzten verzweifelten Hoffnungen, dass das alte Estland
nicht untergehen durfte, fielen zusammen wie die verkohlenden Scheite,
zerstoben zu Asche.
„Es
ist nicht die Frage, ob die Russen kommen. Sie werden kommen“, sagte der Vater
bestimmt. „In ein paar Tagen werden sie auch auf den Inseln landen.“
Bei
der Vorstellung, dass wieder fremde Soldaten über die Straßen und Wege
marschierten, lief es Enn kalt den Rücken herunter. Wilde Gerüchte von
Plünderungen, Vergewaltigungen und Erschießungen auf offener Straße machten die
Runde. Er sah seinem Vater zu, wie er aus dem Haufen neben dem Ofen seine
Uniform mit den drei Löwen der Republik und den silbernen Knöpfen herausnahm.
Mit der Uniform der Omakaitse 6
war der Vater damals gegen die Russen in
den Krieg gezogen, und verwundet zurückgekehrt. Jetzt stopften seine kräftigen
Hände die Jacke in den Ofen, schlossen die Klappe.
Im
Licht der Deckenlampe schimmerte das Blau der achtlos auf die Holzdielen
geworfenen Fahne. Enn lehnte sich gegen den Balken, spürte die Hitze des
Feuers. Auch die blau-schwarz-weiße Flagge würde brennen und nichts als grauer
Staub von ihr übrig bleiben. Alles, was an das alte Land erinnerte, musste
sterben, bevor er starb, oder seine Schwester, oder seine Eltern … Alles
verglühte wie der todgeweihte Feuervogel Phönix …
Unter der Petrischale
loderte der Phosphor. Enn wich vor dem gleißenden Weiß zurück, blickte in die
Gesichter der Studenten. Wie er erwartet hatte, versetzte sie dieses – für ihn
– Anfängerstück zurück in kindliches Staunen.
Phosphor verbrannte,
doch eine kollektive Seele war wie ein Feuervogel. Sie stand wieder aus den
Flammen auf, spreizte ihre Flügel und erhob sich aus der Asche.
Sein Land, Estland, lag wie der Feuervogel Phönix in der Asche. Viele Menschen
hatten es nie vergessen und aufgegeben. Seine Schwalbe würde sich wieder aufschwingen, sobald ihr Tag anbrach.
Die Schwalbe als Brosche - Enns Hochzeitsgeschenk an seine Frau |
© Ira Ebner 2017
1SSR: Sozialistische Sowjetrepublik; entsprach in
etwa einem Bundesland
2 Tscheka: Umgangssprachliche Bezeichnung für den
Geheimdienst KGB
3 Tagebuch (russisch „dnjewnik“, estnisch „päevik“):
Entspricht hier dem Klassenbuch
4Uschanka: Die über die russischen Grenzen hinaus
verbreitete Pelzmütze mit den Ohrenschützern
5 Komsomol: Kommunistische Jugendorganisation in
der UdSSR
6 Omakaitse: Estnische Heimatschutztruppe (bis
1941)
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