#Charaktersofseptember Tage 16, 17, 18: Freundschaft

Social Media Hashtags: #ColdBritannia #roman #historischerroman #england #minersstrike #1984 #1980s #zeitgeschichte

Ich betrete den Miners' Welfare Club, ein backsteinernes Gebäude, das als sozialer Schnittpunkt der Kumpels und der Gewerkschaft NUM dient. Hester kommt die Treppen herunter, oben befinden sich die Räume der National Union of Mineworkers
"Heute hast du die Chance, meine beste Freundin kennenzulernen", sagt sie und läuft den gefliesten Flur entlang. "Du wolltest heute mit mir über sie und meinen Freundeskreis sprechen."
Am Ende des Flurs befindet sich die Kantine, ich nehme das Gemisch aus Rosmarin, Minze und gebratenem Speck auf. Kann man einem Land einen bestimmten Geruch zuordnen? Wenn ja, dann riecht England für mich so.
"Hey lasses!", ruft Hester den Frauen zu, die das Mittagessen für die Streikenden zubereiten. "Hallo Mädels!"
Nicht alle Frauen, die auf diese Weise den Streik unterstützen, sind noch Mädels. Die meisten sind Hausfrauen und in der Methodistischen Gemeinde aktiv und ich weiß von den anfänglichen Reibereien, die es anfangs zwischen ihnen und Hester gab. Unabhängig von der Gewerkschaft wollen die Women Against Pit Closures sich gegen die Zechenschließungen engagieren.
Hester tritt hinter eine gleichaltrige Frau, die frische Petersilie hackt, schiebt ihren Arm um ihre Hüften und lehnt den Kopf auf ihre Schulter. Amy. Dann kommt noch eine, Fiona.

"Das sind meine besten Freundinnen", stellt mir Hester die beiden vor, wendet sich mir wieder zu und weist zu einem Kantinentisch. Noch ist es ruhig hier. "Amy, Fiona und ich kennen uns seit der Vorschule. Sherthorpe ist eine kleine Welt, man wächst gemeinsam auf, man hat Teil am Leben der anderen. Ist doch so!"
Beipflichtend nicken die beiden.
"Unsere Lebenswege haben aber unterschiedliche Richtungen eingeschlagen", erklärt sie.
"Du warst ein wenig standhafter als wir, was die Männer betrifft", sagt Amy und lächelt.
"Wir hatten es eiliger als du, Kinder zu bekommen und zu heiraten", ergänzt Fiona.
"Ich war eben zu beschäftigt, um mich darum zu kümmern. Und dann wart ihr zu beschäftigt, um euch um mich zu kümmern." Hester fällt in das Lachen der beiden mit ein, doch mein Gedanke an den britischen Humor täuscht. 
Schnell werden die drei ernst. Blicke tauschen sich aus, in stiller Einigkeit erhält Hester das Wort.
"Bei uns ist es nicht unüblich, dass Teenager schwanger werden und Eltern die Zustimmung für eine Heirat erteilen", erzählt sie. "Ich war mit Amy und Fi in der gleichen Klasse. Beide brachen die Schule ab, machten keinen Abschluss. Wenn ich bedenke, meine Mutter war ebenfalls sehr jung, als sie meinen Vater heiratete und Mike zur Welt kam ... Mir waren ein Schulabschluss und das Technical College wichtiger, trotzdem hielt ich den Kontakt zu meinen besten Freundinnen und passte auch einmal auf ihre Kinder auf. Auch wenn dann die Zeit für Gespräche, Trost und Rat fehlte, wir wissen, dass wir einander haben."
Ihre besten Freundinnen kenne ich jetzt, zwei sehr herzliche Frauen. "Wie sieht dein übriger Freundeskreis aus?", frage ich.
Da scheine ich bei Hester einen Punkt berührt zu haben. Nachdenklich sieht sie aus dem Fenster, hängt dem Blätterregen nach, den der Wind vorbeitreibt.
"Mike und ich hätten einen gemeinsamen Freund, Ray", antwortet sie und seufzt. "Er war unser Freund, wir hatten oft schöne Zeiten miteinander, spielten Billard, feierten gemeinsam. Ray ist ebenfalls Bergmann, aber er ist ein Scab geworden."
Scab, das Wort für einen Streikbrecher, was auf Deutsch soviel wie Abschaum bedeutet. Freundschaften scheinen mit Scheitern oder Gelingen des Streiks verbunden zu sein. Wer nicht streikt, ist gegen die Gewerkschaft, ist für die Regierung. Eine harte Konsequenz.
"Was ist dir bei deinen Freunden wichtig?", fällt mir daraufhin ein.
"Loyalität und Zusammenhalt", kommt es Hester schnell über die Lippen. Dann wird ihr Gesicht wieder weicher, der harte Ausdruck in ihren Augen verschwindet. "Auf meine Freunde kann ich mich verlassen, sie hören mir zu. Und ich weiß, dass es bei Amy und Fi so ist."



Comments