#Charaktersofseptember Tag 12, 13, 14: Familie

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Die milden Strahlen der späten Nachmittagssonne glitzern auf dem Meer, lassen den weißen Pavillion auf dem Pier von Brighton strahlen. Auf der Promenade hat sich eine Menschenmenge versammelt, Kumpels und Gewerkschafter, die zum Kongress im südenglischen Seebad gekommen sind. Ihre Banner wehen im Wind, auch hier sind die Briten sehr traditionsbewusst, zeigen sie ihre Zechen inmitten der Landschaft des Nordens und damit den Stolz ihrer Herkunft. Red Jims kupferner Schopf ist zu erkennen, als er eifrig mit seinen Mitstreitern diskutiert.
"Wir treffen uns später auf dem Pier", sagt Hester, berührt seinen Arm.
"Ja", erwidert er wenig aufmerksam, führt seine Unterhaltung fort.
"Er ist immer beschäftigt" seufzt sie, als wir die Stufen zum Strand hinuntergehen. Jetzt unterdrückt sie ihr Gähnen nicht mehr. "Wir sind heute bereits um drei Uhr nachts aufgebrochen, um rechtzeitig in Brighton zu sein. Ich habe ein wenig im Auto geschlafen, unterwegs gefrühstückt. Und dann noch der Kongress. Etwas anstrengend. Darum hoffe ich, dass du mir keine komplizierten Fragen stellst."
Ich bekomme kaum mit, dass sie ihre Schuhe und Strümpfe auszieht, um barfuß über die roten Kieselsteine zum Meer zu laufen. Während wir durch das kühle Wasser waten, erkläre ich: "Meine Fragen sind heute nicht so anspruchsvoll. Ich möchte nur etwas über deine Familie wissen. Wie groß ist sie?"
"Wir sind zu sechst, meine Eltern, Nigel und Lorraine Simmons", das Meerwasser und die frische Brise scheinen Hesters Geist ein wenig zu beleben. "Dann noch mein Bruder Michael, seine Frau Cynthia und deren Sohn Ben. Und ich." Sie lächelt, scheint fest und liebevoll an ihre engsten Verwandten zu denken. 
"Was bedeutet dir Familie?", will ich wissen.
"Sie steht bei mir über allem", antwortet sie. "Gerade jetzt halten wir umso fester zusammen. Mein Vater und mein Bruder sind im Streik, was bedeutet, dass sie außer dem Streikgeld kein Einkommen mehr haben. Das Streikgeld reicht hinten und vorne nicht aus, und die Regierung hat verfügt, dass streikende Kumpels keine Sozialhilfe und keine Zuschüsse für ihre Kinder bekommen. Schuluniformen, wie es sie bei uns gibt, müssen die Familien selbst bezahlen, und die kosten auch einiges."
"Das ist ja asozial", wende ich ein.
"In der Tat", pflichtet sie mir bei. "Meine Schwägerin arbeitet bereits halbtags, aber bei ihnen darf nichts kaputt gehen, keine Neuanschaffungen, keine Reparaturen. Und jede monatliche Stromabrechnung stellt eine große Herausforderung dar. Mir geht es noch am besten, da mir die Gewerkschaft ein festes Gehalt zahlt. Also gebe ich meiner Mutter Geld für die Einkäufe und zahle die Stromrechnungen."
Ich bin beeindruckt von so viel Zusammenhalt und Hesters Bereitschaft, auf die Annehmlichkeiten ihres Lebens vor dem Streik zu verzichten. Dass sie derzeit an andere Dinge denkt, als an Friseurbesuche oder Stadtbummel, ist mir klar.
"Wer war deine Bezugsperson als Kind?", frage ich.
"Ich liebe beide Eltern gleichermaßen, wenn du das meinst", sagt sie. "Meine Mutter war immer da, sie hat mich und Mike aufgezogen und den Haushalt geführt. Dagegen war mein Vater weniger präsent, wenn er in der Zeche Nachtschicht hatte, schlief er am Tag und wir mussten leise sein. An seinen freien Tagen unternahm er dann etwas mit uns, nahm uns mit zu Fußballspielen, machte Ausflüge mit der Familie. Ich freute mich immer, wenn er nach der Schicht zurückkehrte und ich war bereits nach der Schule zu Hause." Es müssen schöne Erinnerungen für Hester sein, sie lächelt. "Ich habe ihn bewundert, wollte auch unter Tage fahren, weil ich mir vorstellte, das sei etwas Besonderes. Er sprach von Traditionen, davon, dass Englands Bergleute sehr viel Macht haben und gemeinsam für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Aber die Traditionen sehen nicht vor, dass Frauen in den Kohleminen arbeiten."
"Bereust du das?"
Hester bleibt stehen, blinzelt gegen die Sonne, die über der Kuppel des Piers steht und bald untergehen wird. "Nein, denn das ist ein Knochenjob, lebensgefährlich und schlecht für die Gesundheit", sagt sie. "Gerade deshalb würden die Kumpels viel mehr Respekt verdienen, aber man behandelt sie wie Kriminelle." Langsam kehren wir ans Ufer zurück, eine sanfte Welle läuft sich über unseren Füßen aus. "Trotzdem habe ich mit dem Bergbau zu tun, als Jims Sekretärin. Damit erhalte ich auch ein Stück Familientradition."   

Dad's back home

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