Der Lotse fehlt - Zum Tod von Helmut Schmidt

... oder die Suche eines Volkes nach geistiger Führung

Die Zeitungen sind voll mit Nachrufen auf Altkanzler Helmut Schmidt, der gestern (am 10.11.2015) im Alter von 96 Jahren verstorben ist. Ich kann mich hier anschließen und meine Bewunderung für seine Entschlossenheit und seinen Mut, auch unliebsame Entscheidungen zu treffen und in Tagen finsterer Bedrohung durch Naturgewalten und Terrorismus unbeugsam zu bleiben, ausdrücken.

Mein eigener Bezug zu Helmut Schmidt geht einher mit dem erfürchtigen Klang seines Namens, wenn mein Großvater - ein Gewerkschafter und Sozialdemokrat aus der bayerischen Arbeiterstadt Moosburg an der Isar, an der Grenze zu Niederbayern - ihn nannte. Übrigens auch, wenn er bei einer Partie Karten mit mir von Willy Brandt sprach. Vor gut 20 Jahren trat ich selbst der Partei Willy Brandts und Helmut Schmidts bei. Weniger aufgrund einer Person, sondern weil sich deren Grundsätze mit meiner eigenen Überzeugung deckten. Das ist bis heute so.
In dieser Partei war in bestimmten Kreisen Helmut Schmidt nicht unumstritten - man denke an seine Zustimmung zum NATO Doppelbeschluss 1979. War er der Pragmatiker und Brandt der Visionär. Ich war selbst mal Juso und könnte mich in die Psychologie der SPD vertiefen. Trotzdem, Standhaftigkeit und Risikobereitschaft mit seiner Meinung auch einmal alleine dazustehen, um später eine Richtung zu weisen, ist keine Frage der politischen Ausrichtung.

Einen Gedanken allerdings nahm ich mit in den Schlaf. Er geht mit der Sorge, in welche Richtung sich Deutschland in Zukunft bewegt, einher. Und was die Gründe dafür sein mögen.
In Zeiten, in denen Meinungslosigkeit mit Ahnungslosigkeit einhergehen, in denen  schlichte Politikverdrossenheit in Politikerverachtung umschlägt, fehlt eine Figur an der Spitze, die sich über Koalitionsgeplänkel hinwegsetzt und bereit ist, eine Entscheidung zu treffen. Und auch klar zu dieser steht. Und sich in einer Fernsehansprache an ein verunsichertes Volk wendet. Schmidt war in Krisenzeiten präsent - was unbestritten einen Teil seiner hohen Beliebtheit ausmacht.

Apropos Beliebtheit. Schmidt ist rückblickend und nach seinem Tod umso mehr, anerkannt. So wollte ihn angeblich die Mehrheit der Deutschen wählen. Angeblich ... Ja, der Ruf nach Politikern mit Profil und Klartext ist einerseits da, aber wehe dem, der Ecken und Kanten in einem kantenarmen Zeitgeist zeigt! Ich rede nicht von gegelten Pappkameraden, die an Seifenoperettenhelden erinnern und deren politisches Sendungsbewusstsein Dauergrinsen, Überpräsenz in Talkshows und halbherzige Beschlüsse nicht überschreitet. Und auch diejenigen sind nicht gemeint, die sich in markiger Rhetorik gegen Asylbewerber und die vermeintliche Islamisierung Deutschlands gegenseitig überbieten. Ich spreche von denen, die keine Kontroversen gescheut haben und scheuen. Die, die Reformen mit Blick auf die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der Zukunft gewagt haben, nicht in fragwürdige Kriege gezogen sind und die, die Konzepte in Zeiten der Bankenkrise von 2008 aufwiesen, schafften es kaum auf Platz 1 der Meinungsumfragen. Und sie waren auch nicht die Lieblinge der Medien.
Helmut Schmidt war keiner, der sich von der Umfragediktatur beeindrucken ließ. In der heutigen Zeit wäre er für sein Handeln während der Sturmflut in Hamburg 1962 als "eigenmächtig" gescholten und für seine unnachgiebige Haltung bei der Entführung der "Landshut" 1977, sowie der Geiselnahme von Bundesarbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und dessen Tod durch die RAF als "rücksichtlos" kritisiert worden. Gewisse Medien hätten mit lauten Schlagzeilen und (hätte es damals bereits das Internet gegeben) einem sich gegenseitigen Überbieten in Schnellverbreitung wenig fundierter Onlinemeldungen Schmidts Rücktritt gefordert. Oder seine Hamburger Schnauze wäre als "Arroganz" gewertet worden.
Hätte man dann einen Kanzler Schmidt (wieder) gewählt?

Jetzt, nachdem er nicht mehr unter uns ist, nachdem niemand wie er Antworten mehr gibt, wird klar, wer uns fehlt. Ein Lotse, der klar sieht und das Schiff vor Untiefen schützt.

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