Wo ist er?



"Gut geschriebenes Schicksal im Estland des 2. Weltkriegs"
"Faszinierend, lehrreich und spannend"

Die Leser haben entschieden und ich habe mich über die vielen guten Rezensionen für Schwalben natürlich riesig gefreut.

Heute möchte ich einen weiteren Auszug vorstellen. Sommer 1943, Fee wird endlich nach Estland versetzt. Obwohl Jahre vergangen sind, seitdem sie Kalju das letzte Mal gesehen hatte und seine Briefe nicht mehr mit der großen Liebe von einst geschrieben waren, macht sie sich auf die Suche nach ihm ...



Durch das Zugfenster sah Fee weißschwarze Birkenstämme, grünes Laub, dichte Wälder und hellgrüne Roggenfelder an sich vorbeiziehen, die im Wind wogten wie ein Meer. Sie sah an den Feldrändern die dunkle Erde aufgehäuft, rote Tupfen von Klatschmohn in den Wiesen, und sie erinnerte sich wieder, wie kräftig die Farben hier leuchteten. Einzelne Holzhäuser mit Pumpbrunnen tauchten hier und da auf, ein Pferdefuhrwerk rollte neben dem Zug über einen Feldweg, doch bald blieb es zurück.

Die ersten Vororte von Tallinn säumten beide Seiten der Gleise und entfernt am Rand des weiten Himmels, den nur die tief ziehenden Wolken von der Erde begrenzten, leuchtete das Meer als ein schwaches Flimmern. Langsam rollte der Zug in den Baltischen Bahnhof ein.

Mehr als bei ihrem letzten Besuch bei den Eltern fühlte sich Fee so, als sei sie endlich nach Hause zurückgekehrt. Sie hörte auf dem anderen Bahnsteig eine Kapelle spielen. Junge Männer in den schwarzen Uniformen der Omakaitse, und gleich suchte sie jedes der glatten, fast noch kindlichen Gesichter nach etwas Vertrautem, Bekanntem ab, das sie erschrocken zusammenfahren ließ. Nein, Kalju konnte nicht unter ihnen sein. Sie waren viel zu jung. Kalju war auch nicht der Offizier mit der geharnischten Hand und dem E auf den Schulterklappen. Er schien ihr allgegenwärtig, und wenn sie sich umsah, entdeckte sie ihn in keinem der Gesichter, die ihr begegneten.

Sie hoffte und fürchtete, dass sie ihm hier begegnete. Sie ging durch die hindurch und stand unter dem Vordach. Über ihr erhob sich der Domberg und am anderen Rand des Himmels der Lange Hermann mit seinen verschwommenen Zinnen. Welche Fahne auf ihm wehte, mochte sie nicht eindeutig zu erkennen, aber es war wohl die Fahne des Reichs. Das alte Reval hatte mit den Besatzern und dem Krieg seinen Glanz verloren, und Tallinn zeigte sich von der Seite der Entbehrungen.

„Nach Dorpat?“, rief der Fahrer des Lastwagens zu, als er Fee im Grau ihrer Schwesterntracht so unschlüssig vor dem Bahnhof erkannte.

„Nach Kasepää?“, entgegnete sie.

„Alles die gleiche Richtung“, antwortete der Fahrer.

Sie nickte und eilte auf den Lastwagen zu. Sie reichte einem deutschen Soldaten ungefragt ihr Gepäck, stieg auf das Trittbrett und kletterte hinein. Der Motor heulte auf und es ging wieder los.



Außerhalb des Dorfes Kasepää, am Ufer des Peipussees, stand ein prächtiges Holzhaus mit geschnitzten Vestibülen, einem Turm und einem Wintergarten, Veranden, Terrassen, einem Karree mit zwei hohen Fichten und einem Obstgarten, der an einer Wiese vor dem Wasser endete. Schilf wogte, der Wind kräuselte die Wellen und die hochstehende Mittsommersonne ließ den See wie geschmolzenes Silber das Ende des weiten Himmels berühren.

Die rote Erde des Ufers hob sich vom Silberblau des Wassers ab. In diesem Haus erholten sich Soldaten und Offiziere der Wehrmacht, wie auch einige der Esten von ihren Einsätzen um Leningrad. Fee führte dort einen ruhigen Alltag, sah nach den Verwundeten, schob den einen oder anderen im Rollstuhl durch den Garten, unterhielt ihn, und sie machte selbst ihre Spaziergänge. Sie spazierte unter dem hellen Blau der Nacht zwischen den Bäumen und nahm die Geräusche, Gerüche und Farben auf. Das Plätschern der Wellen gegen das Ufer, das Flüstern des Nachtwinds im Schilf, und vor allem der unbeschreibliche Geruch Estlands.

 Sie hatte in Berlin versucht, ihm nachzuspüren, in Frankreich nach etwas Vergleichbaren gesucht und Russlands Gras zwischen den Fingern zerrieben, um eine Spur davon zu finden. Es gab ihn nur hier in seiner Intensität. Trotz der Strickjacke fühlte sie, wie sich die Haare auf ihren Unterarmen aufstellten. So, als fuhr sie unter einer unerwarteten Berührung zusammen, die ihr zunächst fremd, und doch angenehm war. Sie spürte Estland sogar auf ihrer Haut, und es hieß sie willkommen. Die Gerüche, die Geräusche ließen sie nach Janeda verlangen. Sie hörte den Ruf im Schilf und sie folgte ihm.


https://de.pinterest.com/ebnerira/

Comments