Heute will ich einen weiteren Auszug aus Schwalben vorstellen. Es geht um Feldpost in den russischen Winter, wo Fee erlebt, dass Leben und Tod nur einen Augenblick auseinanderliegen.
P.S. Das ist noch nicht alles. Es muss doch noch ein Wiedersehen geben, oder?
P.S. Das ist noch nicht alles. Es muss doch noch ein Wiedersehen geben, oder?
Tallinn, 09. Dezember 1941
Liebe Fee,
es freut mich, wieder von Dir zu hören. Mein Vater
hat mir Deinen Brief nach Tallinn geschickt, wo ich mit meiner Einheit
stationiert bin. Meine Einheit und auch ich unterstehen dem deutschen Kommando,
wir sind Verbündete.
Die Russen sind nun aus Estland verschwunden und
sie haben unsere Städte und Dörfer verwüstet und viele unserer Leute
verschleppt und umgebracht. Wenn ich Dir berichte, wie Janeda heute aussieht,
wird es Dich erschrecken. Dein Elternhaus steht noch, aber ich war bei meinem
letzten Besuch kurz nach meiner Ankunft nicht selbst dort, sondern habe es nur
aus der Ferne gesehen und kann Dir auch nicht viel über den weiteren Zustand
berichten. Aber die Kirche hat keinen Turm mehr und sie wurde aufgebrochen und
alles, was einen Wert hatte, wurde gestohlen. Und das, obwohl die kleine
Pfarrei nie reich war, oder Schätze besessen hatte. Die Russen haben den Pastor
mitgenommen, und niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Ich fürchte, er lebt
nicht mehr. Wie Du Dir vorstellen kannst, ist hier der Hass auf die Russen und
auch ihre Unterstützer sehr groß, und man tut alles, um diejenigen zur
Rechenschaft zu ziehen, die entweder für diesen Verrat verantwortlich oder
daran beteiligt waren.
Du und ich sind das Stück eines Weges gegangen,
das uns für eine gewisse Zeit bestimmt war. Mein Weg fordert mich genauso wie
Dich Deiner fordert. Jeder von uns muss ihn nun fortsetzen.
Liebe Grüße
Kalju
Die letzten
Zeilen ernüchterten Fee mehr als der Zustand ihres Dorfes. Sie las viele
Bedeutungen in sie hinein, die sie sich zurechtbiegen und glauben machen
wollte, aber auch etwas Endgültiges. Das Endgültige setzte sich langsam und
schwer wie ein Stein. Wenn es auch so klang, als läge ein Vielleicht in diesen
beiden Wegen, so begann sie zu begreifen, dass keine Gabelung, kein Überqueren
einer Wiese dazwischen lag, was Aber oder Wenn heißen konnte. Er war ihr auf
seinem Weg bereits zu weit voraus. Der Schnee hatte die Inseln des Monds tief
unter sich begraben. Sie zerriss den Brief und warf die Fetzen in den Ofen.
Nach Weihnachten
trafen Pakete aus der Heimat ein. Auch die Quints hatten für ihre Tochter
einiges zugeschickt, was sie lange Zeit nicht mehr gegessen hatte, und vor
allem, warme Unterwäsche und Seife. An der Front kehrte die Normalität zurück. An
einem klaren Wintermorgen, der einen blauen Himmel zauberte, als sei die Welt
mit sich im Reinen, hackte Fee das Brennholz. Sie beobachtete die beiden
Soldaten, die als Wachtposten abkommandiert worden waren, das Kinn bis in ihre
Krägen hinein vor der Kälte eingruben und durch den Schnee stapften.
Später hielt sie die beiden in einem Bild
fest, umgeben von Fichten, deren Äste sich unter der weißen Last hinab bogen
und umkreist von Krähen. Sie saß beim Frühstück mit den Sanitätern und
Schwestern ihres Korps an einem blanken Holztisch, um das Kommissbrot mit Leberwurst
aus der Dose und Pflaumenmus aus Weckgläsern zum rationierten Zichorienkaffee
zu nehmen. Nebenan frühstückten die Soldaten, die auf ihren Tagesbefehl
warteten. Während sie ihre Brotscheibe mit Wurst bestrich, hörte sie die Stimme
eines kurzsichtigen Sachsen.
„Kiek mohl, da
hab ich ’ne Pflaume!“, rief er belustigt.
Sie sah zum
Tisch herüber. Der Soldat hielt eine tote Maus kopfüber am Schwanz. Ein dicker
Tropfen Mus rann über den Mausekopf und fiel auf die Tischplatte.
Um die Anhöhe
hinter dem Wald tobten neue Gefechte. Sowjetisches Sperrfeuer peitschte
zwischen schwarzweißen Birkenstämmen. Fee, die sich mit dem Feldarzt und einigen
Sanitätern zwischen den eisstarren Büschen und Ranken zu den Verwundeten
durchschlug, suchte immer wieder Deckung hinter den Birken und Fichten. Ihr
weißer Tarnanzug sollte ihr im Schnee Sicherheit geben. Sie rannte, die Griffe
einer Bahre hinter sich hertragend, voraus. So schnell sie eben konnte, wenn
der unebene Waldboden und die unterschiedliche Höhe des Schnees Aufmerksamkeit
und Geschick abverlangten.
Sie sank ein,
ihr Knie gab nach, und sie zog das Bein wieder heraus, um ihren Weg geradewegs
zur Kampflinie fortzusetzen. Der Stahlhelm drückte mit seinem Gewicht auf ihren
Kopf, und außerdem verrutschte er immer wieder, weil er zu groß für sie war.
Wieder prasselte eine Maschinengewehrsalve in den Wald hinein, pfeifend
schlugen die Kugeln an den Stämmen vorbei, prallten ab und schlugen quer.
Sie gab ein
Zeichen mit der Hand an ihren Hintermann und warf sich flach auf den Boden. Die
Deutschen, die versuchten, die Anhöhe zu halten, erwiderten mit einer Granate. Fee
spürte die Erschütterung durch den Boden, auf dem sie lag, obwohl sie gut
hundert Meter weiter abgefeuert worden war.
„In Deckung
bleiben!“, rief der Arzt. „Quint, was sehen Sie mit Ihrem Feldstecher?“
Sie nestelte
unter ihrer Brust nach dem Feldstecher, zog ihn heraus und spähte zur Anhöhe.
Sie sah die Soldaten an den Geschützen, sie luden eines nach, das andere feuerte
gerade eine weitere Granate ab. Der Schnee tränkte sich unter einem Soldaten
rot. Er lag mit ausgerenkten Gliedern an der Böschung, eine aufgetürmte
Schneewehe hielt ihn zurück, dass er den Hang nicht herabrollte. Die
Detonationen hatten die gefrorene schwarze Erde aufgeworfen. Ein anderer, der
ebenfalls am Boden lag, sein Gewehr weit neben sich, bewegte sich noch. Es kam
ihr vor, als versuchte er sich irgendwie vorwärts zu bewegen, was er aber nicht
schaffte.
„Zahlreiche
Verwundete“, antwortete sie und reichte dem Arzt den Feldstecher weiter.
Sie spürte vor
Kälte ihre Fingerspitzen kaum noch und ihre Zehen schienen im Inneren der Stiefel
festgefroren zu sein.
„Wir müssen zu
ihnen vordringen“, sagte der Arzt. „Vor allem, dass uns keine russische Kugel
trifft.“
Er gab ihr den
Feldstecher zurück und nickte ihr zu. Los.
Er hob die Hand. Die russischen Kugeln und Granaten machten ihr keine Angst.
Sie sah sich an einem Punkt in ihrem jungen Leben, an dem sie es als gelebt
betrachtete und ihm jeden Sinn absprach. Auf das Zeichen des Arztes hin hob sie
die Griffe der Bahre an und preschte weiter durch den Schnee, bis sie den Fuß
der Anhöhe erreichte.
Sie nahm die
weiße Fahne von ihrem Hintermann entgegen, stieg an den Toten und den
Verletzten vorbei, keuchte atemlos vor Anstrengung und der eisigen Luft, und erreichte
die Kuppe.
„Ne strjeljaitje!“, schrie sie und
schwenkte die Fahnen. „Nicht schießen!“
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