Kann nicht bleiben, will nicht gehen

Heute gibt es wieder eine kleine Leseprobe aus Schwalben. Mit Beginn des 2. Weltkriegs nimmt die Tragödie ihren Lauf. Estlands Schicksal wurde mit dem Hitler-Stalin-Pakt besiegelt, und der Einmarsch der Roten Armee steht kurz bevor. Mit einem Aufgebot an Freiwilligen versuchen sich die Esten gegen einen übermächtigen Gegner zu verteidigen. Auch Kalju meldet sich zur Verteidigung seines Landes und Fee wehrt sich gegen ihren eigenen Untergang ...



Das Telegramm brach in Fees Hoffen und Warten hinein. Seit dem Abschied von Kalju hatte sie sich jeden Tag gezwungen, das ungute Gefühl zu überhören, das ihr sagte, er würde vielleicht nicht zurückkehren. Ihre Launen rissen sie hin und her. Es war keineswegs so, dass dieses Telegramm so unerwartet in den Traum einer jungen Frau platzte.
Als sie ihren Vater rufen hörte, zog sich ihr Herz zusammen und die unangenehme Erwartung stach in ihrem Magen. Sie eilte die Treppen hinunter, um dieses Telegramm so schnell wie möglich zu lesen, um die Nachricht hinter sich zu bringen und damit zu leben. Oder auch nicht. Aber die Erde schien ihre Füße stärker anzuziehen, und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich die letzte Stufe erreichte.
„Hier, für dich“, sagte Otto Quint mit so viel Nachdenklichkeit im Blick, dass sie schauderte.
Sie zog den Umschlag aus seinen Fingern heraus und riss ihn auf. Sie wandte sich von ihrem Vater ab, ging den Flur bis zur Tür des Esszimmers entlang, damit er ihr nicht ins Gesicht sehen konnte, während sie las.
Liebe Fee, Urlaubsantrag abgelehnt – werde gebraucht – russische Truppen rücken näher. Pass auf dich auf, wir sehen uns wieder. Kalju.
Fee ließ ihren Arm sinken. Ihre Gedanken gerannen und stockten.


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