Fee zieht westwärts

Die nächste Etappe auf Fees Irrweg durch das Europa von 1940 ist Frankreich. So weit von der verlorenen Heimat stellt sie fest, dass Frankreich das Schicksal der Besatzung mit Estland teilt. Nicht nur das, es gibt eine traurig-schöne Erinnerung an Tallinn, denn sie kann künftig auf andere Türme sehen. Der Mont-Saint-Michel liegt gegenüber ...


Von Caen aus fuhr Fee mit den anderen Schwestern und einer Kompanie Soldaten mit Lastwagen weiter westwärts. Sie saß quer zur holprigen Straße auf einer Pritsche, ihren Koffer zwischen ihren Füßen und hielt sich an einer Stange fest. Die lange Reise ermüdete sie. Die Müdigkeit machte sie schwindlig. Die Hinterreifen wirbelten Staub auf, auch der andere Lastwagen, der ihnen in einem gewissen Abstand folgte. Die Sonne senkte sich tief in den Westen.
Fee nahm die würzige Luft auf, die das Meer ans Land wehte. Salziger als der Wind von der Ostsee, und der Tanggeruch haftete länger und kräftiger in ihr. Die Lastwagen fuhren langsamer in eine Kurve ein. Die Schatten von Platanen zogen über Fee hinweg. Sie sah auf den Platz in der Mitte des Ortes, den ein spitzer Kirchturm überragte. Kugeln hatten Wunden und Narben in die Fassaden geschlagen, Sperrholzplatten ersetzten zersplitterte Fensterrahmen.
Sandstein, hellgrauer, moosbewachsener Stein eines Denkmals. Eine Bäckerei, eine Metzgerei und ein Friseursalon säumten den Platz. Der Bäcker in seiner weißen Schürze und die dunkelhaarige Frau, die eben noch in der Türe geplaudert hatten, verschwanden mit Misstrauen und Angst in den Augen schnell im Laden. Die beiden anderen Geschäfte wirkten mit den Rollgittern vor den Türen verwaist.
Niemand zeigte sich auf dem Platz. Ein großes Haus legte seinen langen Schatten darüber. Schmiedeeiserne, verschnörkelte Balkone, Simse, und die mit goldener Farbe ausgefüllte Schrift Hôtel de Ville. Der wohl prächtigste Bau beherbergte das Rathaus. Liberté, Egalité, las Fee, doch die Hakenkreuzfahne verdeckte das Wort Fraternité bis auf die letzten drei Buchstaben.
Der Lastwagen rollte über das Pflaster und durch die schmale Verwinkelung zwischen zwei Häusern. Sie fror, als sie dieses Haus unweigerlich vor Augen bekam. Die Mauern der oberen Etage fehlten, bei einem Gefecht weggesprengt, und sie schaute in die einzelnen Zimmer hinein. Betten, Kommoden, Schränke, Tische, Stühle, eine Seidentapete. Sie ertrug den Anblick nicht und blickte zu Boden.
Die Straße fiel leicht ab. Ein kleiner Hafen legte sich gegen die Bucht und die Ebbe hatte das Meer sich weit zurückziehen lassen. Ein einzelnes Fischerboot lag zur Seite gekippt im Sand. Schon wieder holte Fee die Erinnerung an Janeda ein. Sie zwang sich, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. Kreischend zogen die Möwen vor den Wolken ihre Bahnen.
Sie hielt sich die Hand über die Augen, dass sie die Sonne nicht blendete. Vor dem Horizont tauchte eine Insel auf. Eine Kirchturmspitze strebte über den Dächern eines Ortes auf. Es sah aus wie ein verzaubertes Schloss. Sie studierte die Insel, die dem Himmel, wie auch dem Meer zu entspringen schien. Der Kirchturm schwang sich auf wie der der Nikolaikirche in Tallinn. Ihr Herz tanzte freudig. Aber sie täuschte sich. Das war der Mont-Saint-Michel.

Fortsetzung folgt in Schwalben

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